Wie die Coronakrise das Schichsal der Flüchtlinge in der Türkei besiegelt
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Es ist halb elf Uhr Nachts, als ein Mann mit Mundschutz Omars Traum von Europa beendet. Woher er komme, brüllt es unter der Maske hervor. Fünf weitere Männer mit Sturmhauben warten derweilen im Hof des Hostels. Kaum zehn Minuten dauert die Razzia. Dann verschwindet Omar in einem türkischen Polizeiwagen.
Wie dem jungen Jemeniten erging es tausenden Menschen in den letzten Tagen und Wochen im Westen der Türkei. Nachdem das Versprechen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan auf „offene Grenzen“ vor vier Wochen zehntausende Menschen Richtung EU trieb, sammelten türkische Polizisten und Soldaten die letzten verblieben von ihnen nun wieder ein. Vom Kampf gegen Corona berichten die türkischen Abendnachrichten. Von weiteren EU-Zahlungen westliche Nachrichtenagenturen.
Viele Flüchtlinge sind krank – von Kälte und Tränengas
Dabei habe alles so hoffnungsvoll begonnen, erzählt Omar einige Stunden bevor türkische Polizisten ihn mitnehmen. „Ich war mir sicher, dass wir es diesmal über die Grenze schaffen. Doch dann kam Corona“, sagt er. Wie Omar sind sich viele Flüchtlinge gewiss, dass ihre Reise vor allem an der Bekämpfung der Pandemie scheiterte. Sicher ist: Während man sich im Westen auf eine mögliche Notlage vorbereitete, geriet die reale Not an der europäischen Außengrenze in Vergessenheit.
Zehntausende Flüchtlige strandeten an Tankstellen, hinter Uferböschungen und an Busbahnhöfen. Allein 15.000 Menschen sollen es sein, die am Grenzübergang Pazarkule feststeckten. Mit der Hoffnung auf ein besseres Leben kamen sie. Bekommen haben die Plastikfolien und Pappkartons. Hunderte solcher improvisierten Unterkünfte erstrecken sich über die Felder nahe des Grenzzauns. Viele Menschen sind krank. Nicht von Corona. Sondern von Kälte und Tränengas.
Auch für Europa habe er doch gegen den IS gekämpft, erzählt ein ehemaliger Peshmerga-Kämpfer mit wütender Stimme: „Und was haben wir von euch bekommen?“ Ein junger Iraner berichtet, er sei mit seiner Mutter auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Großvater. Iranische, türkische und internationale Organisationen hätten sie um Schutz gebeten. Ergebnislos. Ein afghanischer Vater, der sich mit seiner Frau und drei kleinen Kindern ein Zweimannzelt teilt, berichtet, für die Reise nach Europa hätten sie ihren ganzen Besitz verkauft: „Wohin sollen wir zurückkehren?“
Erst ausgebeutet, dann im georgischen Knast
Die Geschichte von Omars geplatztem Traum beginnt mit Fotos von Blumengestecken. „Ich will in Holland eine Ausbildung zum Floristen machen. Ich liebe einfach Blumen“ sagt er und zeigt schnell die Bilder auf seinem Instagram-Account, als sei er die ungläubigen Augen schon gewohnt, in die er nach diesem Bekenntnis schauen muss. Omar könnte auch als Werbegesicht für eine Kampagne zur Aufnahme unbegleiteter Minderjähriger durchgehen: höflich, ein bisschen schüchtern, alle paar Sätze fragt er, ob seine Antwort auch verständlich war.
Dass Omar 21 Jahre alt ist, merkt man ihm kaum an. Was er in den 21 Jahren durchgemacht hat, noch weniger: Mit 14 Jahren schaffte er als einziges Kind seiner Familie dem Krieg im Jemen zu entkommen. In Saudi Arabien wurde er ausgebeutet bis er das Geld für das Flugticket nach Armenien zusammen hatte. Wegen illegalem Grenzübertritt verbrachte er ein halbes Jahr in einem Knast in Georgien. Da war er gerade einmal 18 Jahre alt.
Kaum noch jemand interessiert sich für das Schicksal der Flüchtlinge
Dass Omars Traum in Erfüllung gehen wird, war schon bei seiner Ankunft an der Grenze unwahrscheinlich. Doch erst die Bekämpfung der Corona-Pandemie besiegelte das Schicksal von ihm und Tausenden anderen: Anfang März beginnen EU-Staaten ihre Grenzen zu schließen. In den folgenden Tagen setzen Regierungen überall in Europa ihre Aufnahmeprogramme für Flüchtlinge aus. Auch das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und die UN-Migrationsorganisation IOM stellen ihre Umsiedlungs- und Evakuierungprogramme für Asylsuchende ein. Ist die Lage an der griechisch-türkischen Grenze Anfang März in vielen Medien das bestimmende Thema, verschwindet das Schicksal der Menschen bald aus den Schlagzeilen und mit ihnen die politische Debatte um eine mögliche Aufnahme der Schutzsuchenden.
Und noch etwas verändert sich an der griechisch-türkischen Grenz in dem Maße, wie sich Europa der Bekämpfung der Corona-Pandemie zuwendet: die Repressionen türkischer Behörden. Können sich Flüchtlinge in den ersten Tagen noch weitgehend frei bewegen und sich aus nahegelegen Dörfern mit dem Nötigsten versorgen, gleicht das Camp bei Pazarkule bald einem militärischen Internierungslager. Hinter hohen Zäunen patrouillieren Soldaten mit Sturmgewehren. Polizisten scannen die Fingerabdrücke von jedem, der das Camp betritt oder verlässt.
Begründet wird auch dies mit der Eindämmung von Corona. Doch wirklich an der Gesundheit von Menschen interessiert scheint hier niemand: Flüchtlinge berichten, sie dürften keine Schlafsäcke und Zelte mit ins Camp nehmen. Hilfsgüter werden am Eingang ebenso abgewiesen wie Journalisten, die über die Situation berichten könnten. Nach einem Treffen von Erdoğan und EU-Vertretern am 17. März, werden die Maßnahmen noch einmal verschärft. Bewohner des Camp berichten: Um sie zur Umkehr zu bewegen, sei nun auch die Essensverteilung im Lager eingestellt worden.
Das Camp wird geschlossen
Zumindest davon bleibt Omar verschont, der sich rund acht Kilometer entfernt in einem Hostel von seinen eigenen Erfahrungen an der Grenze erholt. Dreimal habe er es mit dem kleinen Schlauchboot über den Grenzfluss geschafft, erzählt er und zeigt zum Beweis erneut auf sein Smartphone. Dreimal wurde er von griechischen Soldaten aufgegriffen, ausgeraubt, verprügelt und zurück in die Türkei gebracht.
Wenige Stunden später klopfen die türkischen Polizisten an die Tür und nehmen Omar mit. Tausende weitere Flüchtlinge werden in den nächsten Tagen mit Bussen in andere Teile des Landes geschafft. Am 27. März räumen die Türkei das Camp am Grenzübergang Pazarkule schließlich endgültig. Angeblich zum Schutz vor Corona werden hunderte Menschen aus dem überfüllten Lager in noch überfülltere Turnhallen und Abschiebeknäste gebracht. Andere wiederum werden anscheinend willkürlich an einem Busbahnhof in Istanbul abgesetzt. Von dort meldet sich auch Omar. Ob er es noch einmal nach Europa versuchen wolle? „Ja aber erst nach Corona.“
ist Journalist und Islamwissenschaftler. Für verschiedene Magazine und Zeitungen berichtete er viele Jahre aus dem Nahen Osten. Auf seinem Blog schantall-und-scharia.de schreibt er über Islamophobie in Deutschland.