Wie die Armenien-Resolution des Bundestages die Türken eint
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Die Armenien-Resolution birgt für die Türkei enorme Sprengkraft. Union, SPD und Grünen wollen am Donnerstag ein fünfseitiges Papier verabschieden, das die Massaker an Armeniern zu Zeiten des Osmanischen Reiches als Völkermord bezeichnet. Nach Einschätzung von Historikern wurden zwischen 1915 und 1918 bis zu 1,5 Millionen Armenier und andere christliche Minderheiten auf dem Gebiet der heutigen Türkei verfolgt und getötet. Länder wie Frankreich, Österreich oder Schweden haben den Völkermord bereits anerkannt, Papst Franziskus nannte ihn „den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts“.
Yildirim nennt Völkermord „gewöhnliche Ereignisse“
Alle türkischen Regierungen, auch die jetzige, leugnen ihn hingegen vehement: „Das ist eine lächerliche Abstimmung“, urteilte heute der neue Premier Binali Yıldırım, „Das waren gewöhnliche Ereignisse unter den Bedingungen des 1. Weltkrieges, wie sie jedes Land erlebt hat.“ Laut offizieller türkischer Geschichtsschreibung wird die Deportation der Armenier als Sicherheitsmaßnahme im Krieg gewertet – aus Angst vor der Iloyalität der Minderheit. Durch Überfälle, Hunger und Seuchen soll es viele Opfer auf beiden Seiten gegeben haben.
Viele Deutschtürken unterstützen diese Lesart: Über 500 türkische Verbände in Deutschland haben zu Protesten gegen die Resolution aufgerufen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, der sonst für seine Tiraden und Drohungen gegen Europa bekannt ist, meldete sich hingegen erst gestern zu Wort. Aber nicht in einer gewohnt feurigen Rede an sein Volk, sondern in einem Telefongespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel. Da habe er seine Besorgnis über die Entscheidung geäußert und an den „gesunden Menschenverstand“ Deutschlands appelliert, erklärte er anschließend türkischen Medien: „Wenn dieser Text angenommen wird und Deutschland in diese Falle tappt, könnte dies alle unsere Beziehungen zu Deutschland, wo drei Millionen Türken leben und das unser Nato-Verbündeter ist, verschlechtern“, warnte Erdoğan.
Völkermord passt nicht zum Gründungsmythos
Diese Meinung teilt der überwältigende Teil der Türken. Kein Wunder – schließlich wird der Völkermord in türkischen Schulbüchern bis heute geleugnet. Die Wurzel dafür sieht Historikerin Christin Pschichholz im Interview mit der Zeitung „Die Welt“ im Gründungsmythos der Republik. Der fußt auf den Befreiungskriegen von Staatsgründer Atatürk gegen westliche Besatzer nach dem 1. Weltkrieg: „Die Gründung der modernen Türkei 1923 in den jetzigen Grenzen basiert auf diesen erfolgreichen Befreiungskriegen – ein sehr heroischer Nationalmythos konnte entstehen, der immer noch eine sehr große Identifikationskraft hat. Dass die Homogenisierung des Landes aber auf einem Völkermord basiert, lässt sich in diesen Gründungsmythos kaum integrieren.“
Alle Regierungen blockierten daher jegliche Aufarbeitung der Geschichte, insbesondere jene, die sich in der Tradition von Staatsgründer Atatürk sehen. So richtete Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu von der sozialdemokrantischen CHP einen Brief an Merkel, in dem er die Resolution als Provokation darstellte und betonte: „Geschichtsschreibung- und bewertung sollte nicht Parlamenten überlassen werden.“ Bei diesem Thema ist er ausnahmsweise mit Erdoğan ganz einer Meinung. Und die ansonsten so gespaltene türkische Gesellschaft in ihrer überwiegend nationalistischen Gesinnung geeint.
Zickzackkurs der AKP-Regierung unter Erdoğan
Dabei war es gerade die islamisch-konservative AKP-Regierung unter Erdoğan, die in den letzten Jahren erste zaghafte Worte der Versöhnung mit den Armeniern fand. Sie forderte seit 2005 die Schaffung einer türkisch-armenischen Historiker-Kommission, die die Ereignisse aufarbeiten soll. Zum 101. Jahrestag am 24. April äußerte Erdoğan, er teile den Schmerz über den Tod der osmanischen Armenier, die im Ersten Weltkrieg unter tragischen Umständen ums Leben gekommen seien – und appellierte an Versöhnung. Eine kleine Revolution.
An wirklicher Aufarbeitung ist aber auch er nicht interessiert – wichtige Archive sind in der Türkei noch immer unter Verschluss. Vergangenes Jahr benutzte er das Wort Armenier als Schimpfwort oder sorgte 2011 dafür, dass ein Versöhnungsdenkmal an der armenisch-türkischen Grenze wieder abgerissen wurde. Ein politischer Zickzackkurs, der sich je nach aktueller Strategie des Präsidenten mal reformerisch gibt, mal auf die nationalistischen Gefühle seines Volkes anspielt. Nicht zu vergessen, dass für die Türkei auch immens viel Geld auf dem Spiel steht. Würde sie den Völkermord je anerkennen, könnte die armenische Diaspora gigantische Reparationszahlungen fordern – große Teile Istanbuls und ostanatolischer Gebiete gehörten schließlich einst osmanischen Armeniern.
Schaden für die Beziehungen Berlin-Ankara
Ob die Resolution nun die ohnehin angespannten deutsch-türkischen Beziehungen weiter belasten, ja gar den Flüchtlingsdeal gefährden wird, ist fraglich. Wütende Reaktionen und viel heiße Luft wird es aus Ankara ganz sicher geben. Doch die bisher verhaltenen Kommentare Erdoğans und die Tatsache, dass das Thema in den türkischen Medien bisher wenig Raum einnahm, deuten eher darauf hin, dass sich die Konsequenzen in Maßen halten werden. So erklärte auch Premier Yıldırım: „Was passiert, wenn die Resolution verabschiedet wird? Nichts. In anderen Länder gab es schon ähnliche Entscheidungen. Das ist für uns eine inhaltslose und ungültige Sache. Trotzdem wollen wir nicht, dass sie durchkommt.“
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.