Wie derEuGH die Sanktionen gegen Polen und Ungarn begründet
nmann77 - stock.adobe.com
Schon seit Jahren wurde diskutiert, wie die EU auf problematische Mitgliedsstaaten einwirken kann, die ihre Gerichte auf Regierungslinie bringen, die die Grundrechte von Minderheiten missachten und die im Innern korrupt sind. Der EU-Vertrag sieht in Artikel 7 ein eher unpraktikables Verfahren vor: Einem Staat, der die Werte der EU verletzt, können die Stimmrechte in EU-Gremien entzogen werden - wenn sich alle anderen Staaten einig sind. Das Verfahren läuft aber leer, wenn sich zwei Staaten - etwa Polen und Ungarn - gegenseitig decken.
EU-Geld nur bei rechtsstaatlichem Verhalten
Deshalb hat die EU im Dezember 2020 einen weiteren Sanktionsmechanismus beschlossen. Bei EU-Staaten, die intern die Rechtstaatlichkeit verletzen und damit finanzielle Interessen der EU gefährden, können EU-Gelder gekürzt oder gestrichen werden. Die EU nennt das „Konditionalität“: EU-Geld gibt es nur bei rechtsstaatlichem Verhalten. Beschlossen werden die Sanktionen dann mit qualifizierter Mehrheit (erforderlich sind also mindestens 15 von 27 EU-Staaten, die für 65 Prozent der EU-Bevölkerung stehen).
Polen und Ungarn konnten die Sanktions-Verordnung damals nicht verhindern. Sie drohten aber, den EU-Haushalt und den 700 Mrd-Euro-schweren Corona-Aufbaufonds zu blockieren. Deshalb sagten die EU-Kommission und die anderen EU-Staaten zu, den neuen Sanktions-Mechanismus erst dann anzuwenden, wenn der EuGH über die angekündigten Klagen von Polen und Ungarn entschieden hat. Das Europäische Parlament war über dieses Zugeständnis empört und erhob im Oktober 2021 eine Untätigkeitsklage gegen die EU-Kommission, über die der EuGH aber noch nicht entschieden hat.
EuGH weist Klage zurück
An diesem Mittwoch ging es nur um die Nichtigkeitsklagen von Polen und Ungarn. Sie hielten den Sanktionsmechanismus aus drei Gründen für rechtswidrig. Erstens habe die EU keine Kompetenz, um die Justiz der Mitgliedstaaten zu kontrollieren. Zweitens werde das Verfahren nach Artikel 7 umgangen. Und drittens sei völlig unklar, was mit „Rechtsstaatlichkeit“ überhaupt gemeint ist. Alle drei Argumente hat der EuGH nun zurückgewiesen.
Die EU habe das Recht, einen Mechanismus zum Schutz des EU-Haushalts zu beschließen, so die EU-Richter*innen. Das Ziel der neuen Verordnung sei nicht die Beseitigung von rechtsstaatlichen Mängeln in den EU-Staaten, sondern der Schutz der finanziellen Interessen der EU. EU-Geld soll dafür ausgegeben werden, wofür es vorgesehen ist. Wenn in einem bestimmten Staat das EU-Geld vor allem an Regierungs-Günstlinge ginge und es in diesem Staat keine unabhängige gerichtliche Kontrolle gäbe, dann wären zugleich die finanziellen Interessen der EU verletzt.
Was bedeutet Rechtsstaatlichkeit?
Der EU-Haushalt, so der EuGH, beruhe auf dem gegenseitigen Vertrauen, dass alle EU-Mitglieder das EU-Geld korrekt ausgeben. Im EU-Haushalt werde auch die gegenseitige Solidarität konkretisiert, betonten die Richter*innen. Es gehe nicht an, dass Staaten die EU-Werte nur beim Beitritt einhalten und sie später missachten. Die EU müsse in der Lage sein, die gemeinsamen Werte im Rahmen ihrer Aufgaben zu verteidigen.
Artikel 7 werde laut EuGH nicht umgangen, denn er habe eine andere Funktion als die neue Sanktions-Verordnung. Artikel 7 ziele darauf, die Verletzung verschiedener EU-Werte in Problemstaaten abzustellen, während die neue Verordnung nur den EU-Haushalt schütze und sich auf Gefahren durch Rechtstaatsmängel beschränke.
Schließlich hält es der EuGH auch für ausreichend klar, was mit „Rechtsstaatlichkeit“ gemeint ist: transparente und pluralistische Gesetzgebung, Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte, Schutz der Grundrechte, Gleichheit vor dem Gesetz, Verbot von Willkür. So stehe es auch ausdrücklich in der Verordnung.
EU kann Sanktions-Mechanismus anwenden
Gegen die EuGH-Entscheidung können Polen und Ungarn keine Rechtsmittel mehr einlegen. Die EU-Kommission kann und muss den Sanktions-Mechanismus nun anwenden. Auf Druck des EU-Parlaments hat Kommissions-Chefin Ursula von der Leyen im November bereits Briefe mit vielen Fragen an Ungarn und Polen geschickt, eine erste Stufe im Sanktionsverfahren.
Gleichzeitig hat die EU-Kommission bereits im Vorjahr die Auszahlung von Geldern aus dem Corona-Aufbaufonds an Polen und Ungarn blockiert. Für Polen geht es dabei um 24 Mrd. Euro Zuschüsse, Ungarn wartet auf rund sieben Mrd. Euro. Offiziell hat die Kommission dabei noch nicht den Sanktions-Mechanismus angewandt, faktisch ging es aber auch hier um die Frage, ob die Gelder im Sinne der EU verwandet werden und es ausreichende Kontrollen gibt.
Zudem hat der EuGH in zwei Vertragsverletzungsverfahren Zwangsgelder gegen Polen verhängt. Konkret geht es um den Braunkohletagebau Turow, der ohne Umweltprüfung betrieben wird. Hier setzte der EuGH im September 2021 ein tägliches Zwangsgeld von 500.000 Euro an. Und im Streit um die Disziplinarkammer für Richter*innen, die die Unabhängigkeit der Justiz bedroht, verlangt der EuGH seit Oktober 2021 täglich eine Million Euro. Auch dies ist unabhängig vom neuen Sanktionsmechanismus.