Wie der Ukraine-Krieg die EU stärken könnte
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Wenigstens hat sich niemand getraut, angesichts des Krieges in der Ukraine erneut von der „Stunde Europas“ zu sprechen. Den Kriegsausbruch im ehemaligen Jugoslawien hatte der damalige luxemburgische Außenminister Jacques Poos so kommentiert – eine Aussage, die in der Rückschau schmerzhaft weit daneben lag. Stattdessen spricht der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell nun von der „dunkelsten Stunde Europas“, erhofft sich daraus aber gleichzeitig die „verspätete Entstehung einer geopolitischen EU“. Seine Hoffnung gründet auf der durchaus unüblichen Einigkeit der europäischen Staaten und der USA und dem darauf basierenden harten Sanktionspaket gegen Russland.
Aus Borrell spricht das Grundvertrauen vieler überzeugter Europäer*innen, die davon ausgehen, dass die Entwicklung der EU in einer Pendelbewegung erfolgt. In dieser Sicht ist jede Krise ein Rückschlag für die Union, auf den das Staatenbündnis mit einem Integrationsfortschritt antwortet. Jede Krise leitet den nächsten Schritt einer immer stärker integrierten EU ein.
Eine Kette von Krisen und Fortschritten
Auf die europäische Handlungsunfähigkeit in Jugoslawien folgte die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und später die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die Eurokrise wurde mit einem Instrumentarium unter anderem aus Europäischem Stabilitätsmechanismus und Fiskalpakt beantwortet. Auf die Migrationskrise des Sommers 2015 folgten Soforthilfen an betroffene Mitgliedstaaten, die Aufwertung von Frontex und die umstrittenen Abkommen mit Grenz- oder Herkunftsländern, mit denen die EU Migration faktisch outsourcte und somit weitere interne Auseinandersetzungen vermeiden konnte.
Die Pandemie wurde mit dem ambitionierten Finanzpaket NextGenEU beantwortet, was auch gleich noch die Transition der EU hin zu einer klimafreundlichen Wirtschaft unterstützen soll. Selbst auf die Herausforderung durch rechtspopulistische und autokratisch angehauchte Regierungen innerhalb der EU, wie Polen oder Ungarn, habe man damit eine Antwort gefunden, indem man einen Teil der Mittel von der Erfüllung rechtstaatlicher Standards abhängig macht. So weit, so unübersichtlich. In dieser Logik ist dann auch die einhellige Verabschiedung des neuen Strategischen Kompasses der EU im März 2022 und die Nutzung der Finanztöpfe der European Peace Facility für Waffenlieferungen an die Ukraine der Anfang einer „geopolitischen EU“.
Doch was in dieser Erzählung fehlt, sind die Risse und Gräben innerhalb der EU – oft zwischen Gruppen von Staaten –, die von diesen Krisen hinterlassen werden und die Union fürderhin hemmen. Metaphorisch gesprochen stellen sich die Integrationsfortschritte dar wie einzelne Sedimente, die aufeinandergehäuft werden. Allerdings hat jedes Sediment Schwachstellen oder gar Löcher, sodass ein instabiles Ganzes entsteht. Die Ziele einer strategischen Souveränität der EU, wie es der deutsche Koalitionsvertrag ausformuliert, oder gar der noch weitergehenden strategischen Autonomie, wie es der wiedergewählte französische Präsident Emmanuel Macron genannt hat, stehen auf tönernen Füßen.
Konflikt zwischen Atlantikern und Europäern
Drei Beispiele können illustrieren, wie das konkret aussieht. Erstens hat der Aufbau der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik von Beginn eine Schwachstelle mit sich getragen: die Spaltung zwischen den stark transatlantisch orientierten Ländern, wie Polen oder Großbritannien, und denjenigen, die auf eine eigenständige Europäische Union in der Sicherheitspolitik setzten. Eigenständig bedeutete in dem Fall allerdings eine von Beginn an marginale Rolle. Denn grundsätzlich war die Sicherheitspolitik der EU darauf angelegt, innerhalb einer funktionierenden liberalen internationalen Ordnung zu funktionieren und darin kleinere Stabilisierungsaufgaben zu übernehmen. Der Riss zwischen den beiden Lagern führte zu endlosen Debatten über die Arbeitsteilung zwischen EU und NATO, die zwar eine Vielzahl von Formelkompromissen hervorbrachten, in der Sache jedoch keinen Fortschritt erzielten. Die EU rettete sich in die Entwicklung von Instrumenten, wie beispielsweise der EU Battle Groups, die zwar als großer Fortschritt verkauft wurden, jedoch nie zum Einsatz kamen.
Der russische Angriffskrieg bietet die Chance, den transatlantischen Graben zuzuschütten. Er hat die NATO revitalisiert und die Unersetzbarkeit der amerikanischen Abschreckungsfähigkeiten für europäische Sicherheit verdeutlicht. Gleichzeitig bietet die US-Regierung von Joe Biden einen wohlwollenden Impetus, mehr Europa in der Sicherheit zu schaffen, weil sich die USA stärker auf China konzentrieren werden. Eine Stärkung der europäischen Sicherheitspolitik könnte pragmatisch der EU ebenso wie einem europäischen Pfeiler in der NATO zugutekommen. Allerdings muss sie dann auf die neue Sicherheits(un)ordnung in Europa angepasst werden und nicht einfach nur den eingeschlagenen Pfad fortsetzen. Wenn diese Chance verpasst wird und 2024 in Washington entweder ein Wiedergänger von Donald Trump oder er selbst an die Macht kommt, könnte Europa blank dastehen, um eine aktuell populäre Formulierung zu verwenden.
Die Folgen der Euro-Krise
Zweitens hat die Eurokrise das Vertrauen in die europäische Solidarität unterminiert und tiefe Risse zwischen dem europäischen Süden und Norden hinterlassen. Der rein ökonomische Fokus, der damals vor allem vom deutschen Bundesfinanzminister Schäuble vorangetrieben wurde, hat zwei Entwicklungen befördert, die Europas strategische Souveränität in Frage stellen. Da ist zum einen die strategische Blindheit Europas. Denn um Haushalte auszugleichen, wurde beispielsweise Griechenland gezwungen, das Tafelsilber zu verkaufen, egal an wen.
Daher gehört heute der fünftgrößte europäische Hafen Piräus einer staatseigenen chinesischen Firma und der Hafen von Thessaloniki einem russischstämmigen Oligarchen, dem Kontakte zu den Donbas-Separatist*innen nachgesagt werden. Auf Kosten von europäischen Partnern wurden also Wettbewerber oder gar Gegner eingeladen, sich europäische strategische Assets zu eigen zu machen, die ihnen gleichzeitig ermöglichen, europäische Einigkeit zu verhindern. Durch Druck auf die Staaten, die von ihren Investitionen abhängen, können sie Entscheidungen des Europäischen Rates beeinflussen. Diese historische Erfahrung in Verbindung mit der Sorge vor einer künftig wieder rigiden Auslegung des Stabilitäts- und Wachstumspakts ist das zweite tiefe Trauma der Eurokrise. Denn solange eine gemeinsame Wirtschaftspolitik nur in Ansätzen möglich ist und europäische Investitionen nur in Krisenzeiten aktiviert werden, bleibt der europäische Zusammenhalt fragil. Die Weiterentwicklung der Eurozone zu einer wirtschaftlich und finanziell integrierten Einheit muss daher der nächste Schritt sein.
Die Migrationskrise und hier vor allem die Verweigerung einer gemeinsamen Lösung von Seiten osteuropäischer Mitgliedstaaten hat drittens ebenfalls tiefe Risse hinterlassen. Zusammen mit den zunehmend illiberalen Umbauten der Staatswesen in Polen und Ungarn haben sie den Eindruck verstärkt, dass es diesen Regierungen nicht um eine aktive Teilhabe am Aufbau der europäischen Integration geht, sondern nur um die europäischen „Fleischtöpfe“, sprich: die Finanzmittel der EU.
Polen spielt eine Schlüsselrolle
Bei Polen wiegt dieser Eindruck deutlich schwerer. Er verhindert, dass das Land eine tragende Rolle in der EU einnimmt, wie sie beispielsweise in der Idee des Weimarer Dreiecks angelegt ist und damit die Verbindung des deutsch-französischen Motors nach Zentraleuropa herstellt. Rechnet man hier die teils anti-deutsche Rhetorik aus der polnischen Regierung und die gesuchte Nähe zu Präsident Trump hinzu, dann wird der Eindruck verstärkt, dass es den Regierenden in Warschau nicht um eine Stärkung der EU geht. Der Ruf Polens nach Solidarität für die Bewältigung der Flüchtlingsbewegungen aus der Ukraine erlauben ein Kitten des Risses zumindest mit Warschau, denn die gemeinsame Front zwischen Polen und Ungarn bröckelt im Moment – vor allem wegen der Nähe des ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán zum Regime Putin. Dies kann aber nur gelingen, wenn der Rückbau der Justiz korrigiert wird und Polen die rechtsstaatlichen Standards der EU voll akzeptiert und umsetzt. Der ansonsten stark ideologisch geprägte Impuls der Regierung Biden für einen Zusammenschluss der Demokratien gegen Autokratien könnte dabei ein weiterer Anreiz für Warschau sein.
Dieser nur unvollständige und skizzenhafte Blick auf die fragmentierte und zerrissene EU macht deutlich, warum vor dem Ausbruch des Krieges Zweifel an einem harten Sanktionspaket gegen Russland bestanden. Er macht aber gleichzeitig deutlich, dass die EU nun vor einer riesigen Herausforderung steht. Sie muss die aktuelle Krise bewältigen und die richtigen Schlüsse daraus ziehen, gleichzeitig aber auch bestehende Gräben zuschütten, um die eigene Fähigkeit zu stabilisieren, Politik zu gestalten. Das bedeutet auch harte Auseinandersetzungen, die nicht mit Formelkompromissen beschwichtigt werden können. Dazu gehört ganz fundamental die ehrliche Diskussion über abgestufte Formen der Integration, wie es die Eurozone bereits ist. Die Wiederwahl Macrons und die noch recht frisch im Amt befindliche deutsche Regierung bieten dazu ebenso wie der Krisendruck ein Möglichkeitsfenster. Das wäre dann tatsächlich die Geburtsstunde einer geopolitisch souveränen EU.
Dieser Text erschien zuerst im ipg-journal.
leitet das Regionalbüro für Zusammenarbeit und Frieden der Friedrich-Ebert-Stiftung in Wien. Zuvor leitete er die Büros der FES in London, Athen und Brüssel.