International

Wie in der Pandemie die Bedeutung von Migration sichtbar wird

Die Pandemie hat gravierende Auswirkungen auf Migrant*innen und Geflüchtete. Gleichzeitig wird ihre Systemrelevanz deutlich. In der Fleischindustrie, dem Baugewerbe oder der Landwirtschaft.
von Stefan Rother · 2. Juli 2020
In der Pandemie wurde die Systemrelevanz von Migräne*innen sichtbar, beispielsweise als Facharbeiter*innen in der Spargelernte.
In der Pandemie wurde die Systemrelevanz von Migräne*innen sichtbar, beispielsweise als Facharbeiter*innen in der Spargelernte.

Die Corona-Pandemie führt so manche Ungerechtigkeit heraus aus einem Schattendasein mitten ins grelle Licht der Öffentlichkeit. Jüngstes Beispiel sind die miserablen Arbeitsbedingungen in Deutschlands Fleischindustrie. Betroffen vom Corona-Ausbruch in diesem Gewerbe sind nahezu ausschließlich Arbeiter*innen mit migrantischem Hintergrund. Überhaupt hat die Pandemie deutlich gemacht, wie sehr einzelne Wirtschaftsbereiche von der Leistung migrantischer Arbeiter*innen abhängen. Neben der Fleischindustrie gilt das insbesondere für das Baugewerbe, die Landwirtschaft, das Gesundheits- und das Reinigungsgewerbe. 

Arbeit auf dem Acker ist Facharbeit

Immerhin scheint durch Corona nun ein vorsichtiges Umdenken einzusetzen. Der Mythos der „unqualifizierten Arbeit“ der Erntehelfer ist der Erkenntnis gewichen, dass Arbeit auf dem Acker Facharbeit ist. Großbritanniens Premierminister Boris Johnson würdigte nach seiner Genesung den Einsatz seiner Krankenpfleger – „Jenny from New Zealand and Luis from Portugal“. Laut OECD sind über 30 Prozent der Ärztinnen und Ärzte und gut 20 Prozent der Krankenpfleger in Großbritannien Einwanderer. Portugal verlieh während der Pandemie sämtlichen Migranten und Asylbewerbern volle staatsbürgerschaftliche Rechte. Italien plant eines der größten Regularisierungsprogramme für Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus in der europäischen Geschichte. So sollen circa 600 000 Menschen, die häufig ohne Vertrag in den Bereichen Landwirtschaft, Fischerei, Pflege und Hausarbeit arbeiten, eine legale Aufenthaltsgenehmigung beantragen können. Und die deutsche Bundesregierung will nun mit einem Arbeitsschutzprogramm für die Fleischwirtschaft die ausbeuterischen Zustände stoppen. In der Fleischindustrie sind laut Schätzung von Gewerkschaften 80 Prozent der Belegschaft über Werkverträge angestellt – die meisten davon aus Osteuropa. Es bleibt zu hoffen, dass diese ersten positiven Reaktionen langfristig die viel beschworene „neue Normalität“ für Migrantinnen und Migranten bilden. 

Doch diese positiven Ansätze können nicht verhehlen, dass sich die Situation für die meisten Arbeitsmigranten weltweit düster darstellt. Für sie brachte die Pandemie zahlreiche Einschränkungen und teils existentielle Bedrohungen. Vor allem für das Heer von Beschäftigten im Niedriglohnbereich ist „Home Office“ schlichtweg keine Option. Wer im Haushalt des Arbeitgebers wohnt, wie migrantische Hausangestellte, zählte schon bislang zu den besonders verletzlichen Gruppen. In Ländern wie dem Libanon führte die schutzlose Situation in der Krise vermehrt zu einer Form von moderner Sklaverei. Weibliche Hausangestellte, die man sich nicht mehr leisten kann, werden einfach vor der Botschaft ihres Herkunftslandes abgesetzt; ihnen droht die Obdachlosigkeit. 

Rückgang der Heimatüberweisungen

Auch Eindämmungsmaßnahmen führen zu teils großer wirtschaftlicher Not. Grund sind u.a. prekäre oder befristete Arbeitsverhältnisse und die Beschäftigung im informellen Sektor, ohne Zugang zu sozialem Schutz, bezahltem Krankenstand oder Unterstützung bei Verdienstausfall. Staatliche Hilfspakete, um mit Gesundheitsbedrohungen und Arbeitsplatzverlusten fertigzuwerden, stehen vielen Migrantinnen und Migranten nicht zur Verfügung. Für Menschen mit irregulärem Aufenthaltsstatus gilt dies noch in verschärftem Maße.  

In Katar wurden Mitte März nach einem Ausbruch von Covid-19 in einer der größten Massenunterkünfte für Wanderarbeiter 40 000 Menschen unter Quarantäne gestellt, die von Polizei und Militär überwacht wird. In Singapur waren zeitweise mehr als die Hälfte der Wanderarbeiter, die sich teils mit 20 anderen ein einziges Zimmer teilen müssen, an Covid-19 erkrankt. Kurz gesagt: Je prekärer die Arbeit und je schlechter die Arbeitsbedingungen, desto höher die Infektionsrate. 

Der Verlust von Arbeitsplätzen und Einkommen als Folge von Covid-19 führt zu einem Rückgang der Heimatüberweisungen (engl. Remittances) von Migrant*innen, mit verheerenden Auswirkungen für rund 800 Millionen Menschen, die auf sie angewiesen sind. Diese Geldtransfers sind eine wichtige Einkommensquelle und dienen vielen Menschen in Entwicklungsländern als Versicherungsmechanismus in Krisenzeiten. Heimatüberweisungen haben nachweislich eine positive Wirkung auf das Wirtschaftswachstum. Migranten schickten 2019 schätzungsweise 554 Milliarden Dollar in Form von Geld und Gütern in ihre Heimatländer mit mittleren oder geringen Einkommen. In 28 Ländern machten sie mindestens 10 Prozent des dortigen Bruttoinlandsprodukts aus. Für 2020 prophezeit die Weltbank nun einen Rückgang der Geldtransfers von fast 20 Prozent, was die Deviseneinnahmen von Staaten, vor allem aber die wirtschaftliche Situation zahlreicher Haushalte von Mexiko bis Nigeria und der Ukraineeinbrechen lassen wird. Weniger Migration bedeutet weniger Geld, das nach Hause geschickt wird, mehr Ungleichheit und größere Verwundbarkeit.

Bedrohliche Situation für Menschen auf der Flucht

Noch bedrohlicher stellt sich die Situation für die zahlreichen Menschen auf der Flucht dar. Jüngsten Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) zufolge sind derzeit knapp 80 Millionen Menschen auf der Flucht. Etwas mehr als die Hälfte davon sind Vertriebene im eigenen Land. Die Situation in den Aufnahmeregionen wird durch die Covid-19-Pandemie zusätzlich verschärft. Geflüchtete spüren die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen als erstes. Anders als es populistische Schmähungen meist darstellen, gehen viele Geflüchtete einer Arbeit nach, meist in prekären und nicht selten in informellen Verhältnissen, die von einem Tag auf den anderen beendet werden können. So hatte bereits Ende April mehr als die Hälfte der vom UNHCR im Libanon befragten Geflüchteten ihren Lebensunterhalt verloren; 70 Prozent berichteten, dass sie auf Mahlzeiten verzichten mussten. Zu den Folgen zählten enorme psychosoziale Probleme – Kinder wurden aus der Schule genommen, zum Überleben sahen sich Geflüchtete zum Betteln oder zur Prostitution gezwungen und drohten in die Hände von Menschenhändlern zu geraten.

Beengte Wohnverhältnisse erhöhen die Verbreitungsgeschwindigkeit des Virus. Besonders betroffen sind davon Bewohner von Flüchtlingslagern, zählen diese doch zu den am dichtesten besiedelten Orten der Welt. Der Ruf nach social distancing muss auf ihre Bewohner wie ein grausamer Scherz wirken. Dies gilt auch für die Menschen, die unter unhaltbaren Bedingungen in überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln leben. Fälle von Coronavirus-Infektionen auf den griechischen Inseln führten dazu, dass Lager wie Moria präventiv unter Quarantäne gestellt wurden. Ein Ausbruch hätte katastrophale Folgen für die Geflüchteten. 

Die restriktiven Grenzschließungen und die Aussetzung von Umsiedlungsprogrammen, die erst im Juni allmählich wieder aufgenommen wurden, verschärften diese Situation. Darüber hinaus haben Staaten damit begonnen, ordnungsgemäße Gerichtsverfahren und bürokratische Prozesse zu verlangsamen. So haben die USA eine zunehmende Zahl von Beschränkungen eingeführt, die willkürlich angenommen wurden, indem Gerichte geschlossen und Anhörungen verschoben wurden. In Italien wurde die Zahl der Asylverfahren drastisch reduziert, da jeweils nur eine Person zur gleichen Zeit das Büro betreten darf. Viele Länder wiesen Menschen an der Grenze ab und akzeptierten zeitweise keine Visa- oder Asylanträge. 

Globaler Migrationspakt kann große Rolle spielen

Es droht die Gefahr, dass temporäre Maßnahmen zu längerfristigen Maßnahmen werden. Daher muss das erste Ziel eine Rückkehr zur alten Normalität mit ihren Standards sein – um daraufhin weiter an deren dringend notwendiger Verbesserung zu arbeiten. Der Globale Flüchtlingspakt der UN kann hier ein wichtiges Instrument sein. Er betont das Prinzip der geteilten Verantwortung, legt den Fokus auf die direkt Betroffenen und ihre Menschenrechte, bindet vielfältige Akteure wie die Privatwirtschaft, Städte und die Geflüchteten selbst ein und plädiert für den Zugang von Geflüchteten zu nationalen Gesundheitssystemen. Allerdings fehlt der humanitären Hilfe das Geld. Das UNHCR beispielsweise war in den vergangenen Jahren immer nur zur Hälfte finanziert. Gerade in Zeiten einer Pandemie wären aber mehrjährige, nicht zweckgebundene Zahlungen an die UN-Agenturen notwendig, um schnell und flexibel zu reagieren. 

Um den Globalen Migrationspakt mag es ruhig geworden sein, doch für die Vereinten Nationen ist der dort ausgeführte Einsatz für „sichere, geordnete und reguläre Migration“ in Zeiten der Pandemie wichtiger denn je. Das vor zwei Jahren gegründete UN-Migrationsnetzwerk hat unter Einbeziehung der migrantischen Zivilgesellschaft eine Vielzahl von Empfehlungen erarbeitet, die eine Grundlage für progressive Lösungen einer neue Normalität für die weltweite Migration sein können. Dazu zählen Maßnahmen wie der Zugang zu sozialer Sicherheit und staatlichen Leistungen, insbesondere im Gesundheitssektor, unabhängig vom Aufenthaltsstatus und ohne Sorge vor Deportationen, oder sicherere und billigere Möglichkeiten für Geldtransfers. 

Migrationspolitik ist auch in Europa oft von Abwehr, Mutlosigkeit und der Angst vor fremdenfeindlichen Wählern geprägt. Eine entschlossene Umsetzung der beiden „Global Compacts“ unter Einbeziehung der Migranten und Geflüchteten selbst könnte tatsächlich zu jener „Neuen Vorstellung von menschlicher Mobilität“ führen, wie sie der UN-Generalsekretär als Chance inmitten der massiven Herausforderungen durch die Pandemie sieht. 

Die von mehreren Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zugesagten Evakuierungen von Flüchtlingen aus den Lagern der griechischen Inseln haben bislang nur in sehr kleinem Maßestattgefunden. Der „Pakt für Migration und Asyl“ der EU-Kommission muss endlich einen langfristigen Ansatz finden, der im Einklang mit dem Völker- und EU-Recht und den europäischen Werten steht. Und auch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2020 muss sich dieser humanitären Katastrophe annehmen – die Glaubwürdigkeit der EU als Anwältin der Menschenrechte und Vertreterin globaler Solidarität steht auf dem Spiel.

Erschienen am 24. Juni im IPG-Journal.

Autor*in
Stefan Rother

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arnold-Bergstraesser-Institut sowie Dozent an der Universität Freiburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind transnationale Migration, Global Governance, soziale Bewegungen, Demokratisierung und postwestliche Theorien der Internationalen Beziehungen.

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