Wie der „European Green Deal“ den ökologischen und sozialen Wandel in Gang setzt
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Der Erde droht eine Erwärmung des Klimas um katastrophale drei Grad Celsius bis zum Ende des Jahrhunderts, sollte nicht massiv umgesteuert werden. Die kommenden zehn Jahre sind entscheidend. Darauf hat der Weltklimarat, das klimawissenschaftliche Begleitgremium der Vereinten Nationen, nachdrücklich hingewiesen. In diesem Zeitraum müssen die Weichen gestellt werden, um die Klimaerwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Massive Anstrengungen sind nötig, um das scheinbar unvorstellbare, die Klimaneutralität unseres Kontinents innerhalb einer Generation, zu erreichen.
Eine globale Herausforderung, die nicht nur in Sonntagsreden beschwört, sondern in der Alltagspolitik angepackt werden muss, von der Kommune bis aufs internationalen Parkett – und selbstverständlich auch in der Europäischen Union. Bis spätestens 2050 soll die EU klimaneutral sein, so zumindest wollen es Europäisches Parlament und sozialdemokratische Fraktion.
Der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermans wird als erster Stellvertreter der neuen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für den „European Green Deal“ verantwortlich sein. Diese Initiative soll das Markenzeichen der neuen Kommission werden.
Ein europäisches Klimaschutzgesetz
Noch sind nicht alle Details dieses European Green Deals bekannt. Aber Timmermans hat in seiner Anhörung durch das Europäische Parlament vor seinem Amtsantritt einige Eckpunkte und Initiativen erläutert. Sie lassen erwarten, dass es einen neuen Ambitionsschub in der europäischen Umwelt- und Klimapolitik geben wird, wie er von den Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Europäischen Parlament gefordert wird. Sicher ist, dass den europäischen Umwelt- und Klimapolitikern in den nächsten fünf Jahren nicht langweilig werden wird.
Fundament des Green Deals soll ein europäisches Klimagesetz werden. Über dieses Gesetz soll das Ziel, Europa bis spätestens 2050 klimaneutral zu gestalten, im Europarecht verankert werden. Einen Gesetzesvorschlag dazu will Timmermans schon in den ersten einhundert Tagen seiner Amtszeit vorlegen. Das bedeutet, dass die EU auch ihre mittelfristigen Klimaziele für 2030 von derzeit 40 Prozent Treibhausgasreduktion anhebt. Die sozialdemokratische Fraktion drängt darauf, dass dies auf eine Anhebung auf 55 Prozent hinauslaufen muss.
Zwar werden diese Initiativen von der Mehrheit des Europäischen Parlaments und von Umweltverbänden begrüßt, ein Selbstläufer aber sind sie nicht. Noch sperren sich Polen, Ungarn und die Slowakei gegen das Ziel der Klimaneutralität bis 2050. Nur acht EU-Mitgliedsstaaten haben sich klar zum 55-Prozent-Ziel bis 2030 bekannt (Frankreich, Spanien, Niederlande, Portugal, Schweden, Dänemark, Lettland und Luxemburg).
Emssionshandel auch im Straßenverkehr
Auf die progressiven Parteien im Europäischen Parlament und auf die Zivilgesellschaft kommt noch viel Arbeit zu, um die ambitionierten Ankündigungen in reale Politik umzusetzen. Das gilt auch und gerade in Deutschland. In der zweiten Jahreshälfte 2020 wird Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft innehaben und somit alle nationalen Regierungen der EU in Verhandlungen gegenüber dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission vertreten.
Aber es sollen nicht nur Ziele angehoben, sondern auch konkrete Maßnahmen angestoßen oder bestehende Regeln verschärft werden, um für mehr Klimaschutz zu sorgen. So müssten in Anbetracht einer Erhöhung der mittel- und langfristigen Klimaziele sämtliche klimarelevanten EU-Gesetze überarbeitet werden.
Das europäische Emissions-Handel-System (ETS), das bisher in einem Auktionsverfahren einen CO2-Preis pro Tonne für die Sektoren Energie- und Wärmeversorgung und Schwerindustrie abdeckt, soll auf den Straßenverkehr ausgeweitet werden. Auch der Flugverkehr soll stärker einbezogen werden als bisher. Ein CO2-Zoll an den Außengrenzen der EU soll die faire Bepreisung des Kohlenstoffinhalts von Produkten sicherstellen, die von außerhalb der EU importiert werden und aus Ländern stammen, die ihrer Industrie weniger strenge Klimaauflagen machen. So könnte sichergestellt werden, dass die europäische Industrie zu fairen Bedingungen auf dem Weltmarkt konkurrieren kann.
Klimapolitik nicht nur aus der Umweltperspektive
Außerdem soll ein Investitionsplan für ein nachhaltiges Europa über das nächste Jahrzehnt eine Billion Euro mobilisieren. Dazu ist unter anderem vorgesehen, die Europäische Investitionsbank zur Europäischen Klimabank zu machen, die 50 Prozent ihrer Investitionen in der Bekämpfung der Klimakrise tätigt. Es sollen zudem europäische Standards für grüne Anleihen erarbeitet werden. Dabei erwarte ich, dass nicht nur das „Green“, sondern auch der „Deal“ des European Green Deal ernst genommen wird: Der EU-Haushalt muss konsequent auf Klima- und Umweltschutz ausgerichtet werden. Öffentliche Gelder darf es nur für öffentliche Leistungen – wie Klima- und Umweltschutz – geben.
Frans Timmermans sieht die Klimapolitik nicht nur aus der Umweltperspektive. Er geht auch die soziale Dimension an. Dies war stets ein besonderes Anliegen der europäischen Sozialdemokraten. Mit einem neuen Fonds für einen sozialgerechten Wandel (Just Transition Fund) sollen Kohleregionen beim Ausstieg aus der Förderung und Verstromung des fossilen Energieträgers unterstützt werden.
Eine Aus- und Weiterbildungsoffensive soll Arbeiterinnen und Arbeitern die Fähigkeiten für neue und saubere Produktionsprozesse und neue Wirtschaftszweige in der klimaschonenden Wirtschaft vermitteln. Mit neuen Programmen für die energetische Sanierung von Wohnhäusern und öffentlichen Einrichtungen könnten lokale Jobs geschaffen und private Energiekosten gesenkt werden. So kann das riesige Problem der Energiearmut in Europa angegangen werden: Ein Zehntel aller Europäerinnen und Europäer – das sind 50 Millionen Menschen – können es sich nicht leisten, im Winter ihre Wohnung ausreichend warm zu halten!
Impulse für einen ehrgeizigen ökologischen und sozialen Wandel
Übrigens: Der European Green Deal soll nicht nur die Klimakrise bekämpfen. Er sieht auch Maßnahmen zum Schutz der Artenvielfalt, zur Reduzierung der Luft-, Wasser- und Bodenverschmutzung, zum Schutz und zur Wiederherstellung der Wälder, zur ökologischen Reform der europäischen Landwirtschaftspolitik und zur Weiterentwicklung der Kreislaufwirtschaft vor.
So bietet der European Green Deal die Chance, Impulse für einen ehrgeizigen ökologischen und sozialen Wandel zu setzen. Das wäre auch im Sinn der Nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, denen sich die EU und die gesamte Weltgemeinschaft verschrieben haben. Sie definieren nachhaltige Entwicklung als das Zusammenwirken von wirtschaftlicher Entwicklung, sozialem Fortschritt und Schutz der Umwelt. Nachhaltigkeit gibt es nur, wenn es fair zugeht.
Aber: Die Europäische Union ist nicht allmächtig. Ihre Institutionen setzen den großen Handlungsrahmen und stecken die Ziele ab. Die konkrete Umsetzung liegt in weiten Teilen in der Verantwortung der nationalen Regierungen. Sie müssen die europäische Klimapolitik auch mit zusätzlichen Maßnahmen begleiten, um die sozialen Folgen abzufedern – denn die Kompetenzen für die Sozialpolitik liegen immer noch weitestgehend in den Händen der Mitgliedsstaaten.
Ein „Weiter so“ ist nicht drin
Starke Wohlfahrtsstaaten mit robusten Sozialsystemen sind unabdingbar im Kampf gegen die Klimakrise. Sie ermöglichen gleiche Chancen, Zugang zum Arbeitsmarkt, faire Arbeitsbedingungen, soziale Sicherheit und Inklusion in Zeiten des schnellen Wandels in der (Arbeits-)Welt. So kann ein sozialgerechter Übergang in die klimaneutrale Zukunft gestaltet werden. Das Soziale dient auf diese Weise als Antrieb für mehr Klimaambition und nicht als Argument für klimapolitisches Zögern und Zaudern, wie dies Parteien rechts der politischen Mitte oft betreiben.
Auch im Bereich der Finanzierung und Investitionen – und auch beim Abbau von Subventionen für fossile Brennstoffe – müssen die nationalen Regierungen mehr unternehmen. Hier können keine allzu großen Wunder vom EU-Haushalt erwartet werden, der gerade einmal zwei Prozent der gesamten öffentlichen Ausgaben in Europa ausmacht. Vor diesem Hintergrund kann das kürzlich beschlossene Klimapaket der Bundesregierung nur als ein Anfang gesehen werden. Es muss noch mehr passieren.
Die Zeit der großen Reden ist vorbei. Ein „Weiter so“ ist schlicht nicht drin. Es ist höchste Zeit für entschiedenes Handeln. Daran werden wir im Europäischen Parlament arbeiten – das klare Signal der Bürgerinnen und Bürger bei der Europawahl und die wöchentlichen Klimastreiks geben uns dafür Rückenwind.
Der Text erschien zuerst im IPG-Journal.
Dirk Bleicker
ist erste stellvertretende Vorsitzende der Delegation für Bosnien und Herzegowina sowie Kosovo im Europäischen Parlament.