Wie das Präsidialsystem die Türkei verändern könnte
Thomas Trutschel/photothek.netMarienstr. 3110117 Berlinwww.photothek.net+49-(0)30-28097440
Präsident Erdoğan strebt die Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei an. Was würde das für das Land bedeuten?
Die Türkei ist bereits seit 1980 ein Viertel-Präsidialsystem. Die Macht der Exekutive blieb bei der Regierung um den Ministerpräsidenten, während der Staatspräsident mit weitreichenden Ernennungsvollmachten und Vetorechten ausgestattet wurde. Mit der Direktwahl des Präsidenten im Jahr 2014 hat sich die Macht der Exekutive weiter zum Staatsoberhaupt hin verschoben. Wenn in der Türkei nun tatsächlich ein Präsidialsystem eingeführt wird, bedeutet das in erster Linie eine massive Ausweitung der Befugnisse des Staatspräsidenten. Nach den bisherigen Plänen sollen der Posten des Ministerpräsidenten als Regierungschef sowie das Regierungskabinett der Minister abgeschafft werden. Die Exekutive würde also in der Hand einer Person liegen. Hinzu kommt, dass die Parlaments- und die Präsidentschaftswahlen gemeinsam stattfinden sollen. Eine ausgleichende Wirkung wie beispielsweise in den USA mit den Zwischenwahlen nach zwei Jahren würde es nicht geben. In dieser Synchronisation sehe ich durchaus eine Gefahr.
Welche?
In der Türkei wählen die Menschen sehr stark nach Personen. Wenn die Menschen eine bestimmte Person gut finden und als Präsidenten wählen, werden sie auch seiner Partei bei der Parlamentswahl ihre Stimme geben – egal, welche Positionen sie vertritt. Hier kommt erschwerend hinzu, dass dem Staatspräsidenten nach der geplanten Verfassungsänderung erlaubt sein soll, Mitglied und Vorsitzender einer Partei zu sein. Das ist bisher verboten.
Mit der Reform soll das türkische Parlament auch das Recht verlieren, den Staatshaushalt aufzustellen. Was bedeutet das?
Das Parlament wird weiterhin über den Haushalt entscheiden, doch der Entwurf wird statt vom Kabinett vom Staatspräsidenten kommen. Darin sehe ich keine Entmachtung des Parlaments, eher darin, dass das Parlament nicht mehr über das Mittel des Misstrauensvotums verfügen wird, womit ihm ein zentraler Hebel der politischen Kontrolle entrinnen wird. Denn die Minister werden künftig den Status eines „Secretary of State“ wie in den USA haben, gegen die nur beim Amtsvergehen parlamentarische Untersuchung – mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit – und Strafverfahren – ebenfalls mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit – eingeleitet werden können.
Befürworter der Reform verweisen darauf, dass die Anzahl der Parlamentsabgeordneten von 550 auf 600 erhöht werden soll und das das Parlament stärken würde.
Das sehe ich nicht so. Durch eine Vergrößerung wird die Macht des Parlaments nicht erweitert. Ich sehe das eher als ein Zugeständnis an die bisherigen Abgeordneten, die die Verfassungsänderung ja auf den Weg bringen müssten. Ihre Chance auf eine Wiederwahl würde durch die Vergrößerung des Parlaments steigen.
Sehen Sie auch Vorteile der geplanten Verfassungsreform?
In Ansätzen ja. Der Staatspräsident übernimmt juristische Verantwortung für sein Amtshandeln und kann beim Amtsvergehen anbelangt werden. Und wenn die Dekrete, die der Staatspräsident erlässt, mit dem bestehenden Recht kollidieren, wird das Recht gelten. Die Idee, Exekutive und Legislative voneinander zu trennen, ist sicher sinnvoll. Aber das könnte man auch anders erreichen, etwa, indem die Mitglieder der Regierung nicht Parlamentsabgeordnete sein dürfen. Das gibt es in anderen Ländern ja auch. Dafür bräuchte es aber nicht diese umfassende Machtkonzentration bei einer starken Person. Zumal man auch sehen kann, dass die zunehmende Machtkonzentration bei Erdoğan, die es ja bereits gibt, der türkischen Wirtschaft nicht gut getan hat – auch wenn die AKP natürlich etwas anderes behauptet.
Die Verfassungsreform hat die erste Hürde bereits genommen: Im Parlament hat eine Mehrheit der Abgeordneten den 18 Artikel zugestimmt. Nun fehlt nur noch die Zustimmung zum Gesamtpaket, damit anschließend ein Referendum angesetzt werden kann. Wird es die notwendige Drei-Fünftel-Mehrheit im Parlament geben?
Das ist durchaus möglich, aber die Entscheidung wird sehr knapp werden. Die Abstimmungen über die einzelnen Artikel sind zum Teil hauchdünn ausgegangen. Das bedeutet, dass viele Abgeordnete der ultranationalistischen MHP, die Erdoğan versucht hat, mit ins Boot zu holen, den einzelnen Artikeln nicht zugestimmt haben. Und offenbar haben auch von Erdoğans eigener Partei, der AKP, nicht alle Abgeordneten zugestimmt. Klar ist aber auch, dass der Druck auf die Abgeordneten bis zur entscheidenden Abstimmung über das Gesamtpaket deutlich zunehmen wird.
Sollte es eine Mehrheit im Parlament geben, wäre dann im Frühjahr das türkische Volk gefragt. Wie schätzen Sie hier die Stimmung ein?
Auf Umfragen kann man sich immer nur begrenzt verlassen, aber bisher gab es in keiner eine Mehrheit für die Einführung eines Präsidialsystems. Aber auch hier würde der Druck vonseiten der AKP-Regierung sicher groß werden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie versuchen wird, mit populistischen und nationalistischen Äußerungen zu punkten. Eine öffentliche sachliche Debatte über die Verfassungsänderung jenseits Idealisierung und Dämonisierung hat bisher ohnehin nicht stattgefunden. Der anhaltende Ausnahmezustand beschränkt die Möglichkeiten der Opposition zusätzlich und verhindert eine demokratische Diskussion. Wahrscheinlich wird die AKP weiter versuchen, kritische Stimmen zu verhindern. Einzig die wirtschaftliche Situation könnte der Partei Kopfschmerzen bereiten. Verschlechtert sich die Lage weiter, hätte das wohl auch Auswirkungen auf ein Verfassungsreferendum. So oder so stehen der Türkei weiter turbulente Zeiten bevor.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.