Wie China auf die Bundestagswahl 2021 und auf den neuen Kanzler schaut
imago images/Imaginechina-Tuchong
Die Wahlen im fernen Deutschland wurden in China sehr aufmerksam verfolgt. Das hat mit dem besonderen bilateralen Verhältnis zu tun, das lange Zeit von den Wirtschaftsbeziehungen dominiert wurde: Chinas Handel mit Deutschland umfasst knapp 40 Prozent des Volumens der gesamten EU. Die deutsche Industrie hat in China große Tochterunternehmen etabliert. Für den Automobilsektor sind die Umsätze in China inzwischen unverzichtbar.
Die einschlägigen chinesischen Think Tanks beobachten genau, wie sich die Einstellungen zu China weltweit entwickeln. Sie sehen eine stetige Verschlechterung des China-Bildes über die letzten Jahre, und das mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Das gilt besonders für die USA: Während früher über das Entstehen einer G-2 reflektiert wurde, dominiert nun offener Antagonismus die Beziehungen auf vielen Politikfeldern. Das lässt es aus chinesischer Sicht einerseits ratsam erscheinen, die Beziehungen zu den asiatischen Nachbarn zu stabilisieren, beispielsweise über die Mitgliedschaft im regionalen Freihandelsabkommen RCEP. Andererseits lenkt es den Blick auf das Verhältnis zu Europa, und das bedeutet institutionell: auf die EU. Die ungünstigste Entwicklung wäre aus chinesischer Perspektive, wenn die EU weitflächig den US-amerikanischen Führungslinien folgen würde. Das zu verhindern, ist ein wichtiges Politikziel.
China sieht Deutschland als Führungkraft in der EU
Nun ist in jüngster Zeit viel Porzellan zerbrochen: Die Sanktionen der EU gegen China haben tiefe Enttäuschung ausgelöst. Chinas starke Gegensanktionen haben wiederum die EU konsterniert, weil sie dort als unverhältnismäßig empfunden wurden, als Überspringen mehrerer möglicher Eskalationsstufen. Während beide Seiten noch versuchen, die Strategie der anderen Seite zu verstehen, besteht jedenfalls Einigkeit in der Einschätzung, dass die Beziehungen stark abgekühlt sind und Tauwetter derzeit nicht absehbar ist. Das macht die Beziehungen zu Deutschland in zwei Dimensionen wichtig: zum einen als bilaterales Partnerland, und zum anderen, weil Deutschland als Führungskraft in der EU gesehen wird – in Peking wird das vermutlich stärker so empfunden als in Berlin.
Die bilaterale Dimension reicht von den Wirtschaftsbeziehungen bis zur Zusammenarbeit bei Umwelt- und Klimafragen. Deutschland (die wörtliche Übersetzung im Chinesischen ist „Land der Tugend“) hat ein gutes Image, auch weil es nicht mit der kolonialen Vergangenheit anderer europäischer Nationen belastet ist. Das wilhelminische Abenteuer in Qingdao war von kurzer Dauer – nur etwa die Hälfte der Bauzeit des BER – und hat doch bleibende Entwicklungsimpulse hinterlassen, wie etwa die Brauerei Tsingtao, die bis heute als Sinnbild deutscher Tugenden gilt. Man hat aber auch wahrgenommen, dass die Klassifizierung der internationalen Beziehungen zu China – also der Dreiklang Partner, Konkurrent, systemischer Rivale – zuerst in einem Strategiepapier des Industrieverbands BDI formuliert wurde, Monate, bevor es fast wortgleich die Positionierung der Europäischen Kommission beschrieb. Dass gerade die deutsche Industrie mit ihrer engen Einbindung in den chinesischen Markt diesen Schwenk vollzog, akzentuiert die Veränderung der bilateralen Beziehungen.
Wie sieht die Außenpolitik der EU künftig aus?
Deutschlands Einfluss auf die EU wird hoch bewertet. Der Abschluss des „Umfassenden Investitionsabkommens“ CAI ist ein gutes Beispiel. Es wurde über sieben Jahre zäh verhandelt. Gegen Ende 2020 konnten verfestigte Widerstände plötzlich schnell überwunden und das Abkommen unterzeichnet werden. Es scheint, dass Chinas Verhandlungsführung davon motiviert war, zum Abschluss zu kommen, solange die amtierende Bundesregierung noch in der Lage war, den Abschluss innerhalb der EU zu befördern.
Viel wichtiger erscheint aus der Sicht Pekings, wie sich die EU im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik positionieren wird. Wird ihre Indopazifik-Strategie konkrete Wirksamkeit entwickeln – oder ein Papiertiger bleiben? China weiß, dass EU-Strategiepapiere vor ihrer Veröffentlichung sorgfältig formuliert und abgestimmt werden – hat aber auch die Erfahrung gemacht, dass die Umsetzung nicht immer exakt dem Wortlaut folgt. Das macht die Einschätzung des realen Handelns der EU so schwierig, und das gerade im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Da die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik institutionell noch ausbaufähig ist, vermutet Peking, dass die Festlegungen in diesen Fragen durch direkte Abstimmung unter den größeren Mitgliedstaaten entstehen. Allerdings: Das Vereinigte Königreich ist aus der EU ausgeschieden. Frankreich, der wichtigste verbliebene militärische Akteur, ist in Afrika gebunden und vor kurzem durch die Stornierung seines U-Boot-Geschäfts mit Australien schwer verprellt worden und sucht nun den EU-Schulterschluss. Deutschland wird als grundsätzlich moderierender Faktor eingeschätzt. Man weiß um die geschichtsbedingte Zurückhaltung in militärischen Operationen. Es wird auch wahrgenommen, dass nach dem Rückzug aus Afghanistan die europäischen Verbündeten zunächst eine längere Reflexionsphase benötigen, um untereinander zu klären, unter welchen Bedingungen und mit welchen Mitteln sie bereit sind, künftige Einsätze weit außerhalb der europäischen Umgebung zu unternehmen.
Für Peking gilt: „Auf den Kanzler kommt es an!“
Das ist das Fernrohr, mit dem China die deutschen Wahlen betrachtet. Das Wahlergebnis wird danach bewertet, ob die künftige deutsche Regierung – bilateral und über die EU-Schiene – die bestehenden Spannungen voraussichtlich verstärken oder tendenziell abbauen wird. In jüngerer Vergangenheit wurde eine Differenz zwischen den professionellen Regierungskontakten – die allein durch die Reisebeschränkungen im Zuge von Covid-19 an Intensität eingebüßt haben – und einer „public diplomacy“ wahrgenommen, die vor allem auf das inländische Publikum gerichtet ist.
Gern würde China wissen, wer in der nächsten deutschen Regierung die Richtlinienkompetenz übernimmt und die China-bezogenen Politikbereiche koordiniert. Nun werden die Positionen der Parteien analysiert, deren Regierungsbeteiligung möglich oder wahrscheinlich ist. Einige Parteien, die in Frage kommen, haben bereits erklärt, dass sie mehr offene Konfrontation für geboten halten. In Peking hofft man darauf, dass im Spannungsverhältnis „Partner-Konkurrent-systemischer Rivale“ eine Form des politischen Umgangs gefunden werden kann, in dem die politischen Instrumente rational eingesetzt werden, sodass win-win-Situationen, wo immer sie bestehen, nicht aus prinzipiellen Gründen ungenutzt bleiben, und letztendlich ein lose-lose entsteht. China erwartet das eher von den größeren Parteien. Um einen früheren Wahlkampfslogan aufzunehmen: „Auf den Kanzler kommt es an!“
Dieser Text erschien zuerst auf www.ipg-journal.de
Dr. Alexander Kallweit leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Peking. Zuvor war er Leiter der Abteilung Internationaler Dialog der FES in Berlin.