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Widerstand gegen Erdoğan: Zwischen Bürgerkrieg und Gezi 2.0

Die Pressefreiheit in der Türkei ist spätestens seit vergangener Woche am Ende. Im türkischen Online-Forum „Ekşi Sözlük“ jedoch geht der freie Meinungsaustausch weiter. Eine Frage dabei: Wie sieht der Widerstand gegen Erdoğan in Zukunft aus?
von Paul Starzmann · 7. November 2016

Was haben die Frisur der Schlager-Legende Bülent Ersoy, die besten Fischrestaurants Roms sowie der Krieg in Kurdistan gemeinsam? Die Antwort: Alle drei Themen werden mit voller Leidenschaft auf der türkischen Webseite „Ekşi Sözlük“ (deutsch: „das saure Wörterbuch“) diskutiert. Das 1999 gegründete Online-Forum ist das älteste soziale Netzwerk der Welt und zählt zu den meistgeklickten Seiten der Türkei. Bisher ist es weitgehend frei geblieben von staatlicher Zensur – obwohl dort jeder unter einem Pseudonym seine Meinung zu den unterschiedlichsten Themen äußern darf. Somit ist es auch keine Überraschung, dass bei „Ekşi Sözlük“ zur Zeit vor allem die politische Zukunft der Türkei hitzig debattiert wird.

Hat Gezi 2.0 eine Chance?

Nachdem die türkische Regierung vergangene Woche – wieder einmal – Journalisten und Oppositionspolitiker verhaften ließ, wird eine Frage besonders heiß diskutiert: Hat der zivilgesellschaftliche Widerstand gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan überhaupt noch eine Chance? Und könnte es vielleicht gar zu einem „Gezi 2.0“ kommen?

Die Wahrscheinlichkeit für eine Neuauflage der Gezi-Bewegung scheint allerdings gering zu sein. Vor drei Jahren hatten Demonstrationen rund um den Gezi-Park in Istanbul einen landesweiten Protest gegen die AKP-Regierung ins Rollen gebracht. Die Stimmung auf der Straße sei damals so euphorisch wie bei einem „Rave“ gewesen, erinnert sich Imran Ayata, der in Berlin eine Kampagnen-Agentur leitet und die Gezi-Proteste vor drei Jahren genau beobachtete. Nachdem die Demos jedoch von der Polizei gewaltvoll beendet worden waren, sei eine große Leere, „ein politisches Vakuum“ in der Türkei entstanden, so Ayata gegenüber vorwärts.de.

Genau wie viele Autoren von „Ekşi Sözlük“ sieht auch der Politologe Ayata wenig Chancen, dass „Occupy Gezi“ heute wieder zum Leben erweckt werden könnte. „Selbst politisch Interessierte trauen sich nicht“, sagt er. Präsident Erdoğan habe die „Repressionen ausgeweitet“, im Land herrsche eine „Atmosphäre der Angst“. Bei „Ekşi Sözlük“ klingt das so: Gegen jeden nennenswerten Straßen-Protest, schreibt ein User, würde die AKP heute genau so vorgehen wie der „Islamische Staat“ gegen seine Gegner – mit größtmöglicher Gewalt.

Die PKK sollte einen Waffenstillstand verkünden

Keine Frage: In der Türkei ist die politische Polarisierung größer denn je. Die Gezi-Bewegung versuchte vor drei Jahren, die gesellschaftliche Spaltung zu überwinden. Sie zog vor allem junge Regierungskritiker an, denen die kemalistische CHP zu verknöchert und die marxistische PKK zu fanatisch erschienen. Die pro-kurdische HDP habe nach dem Ende der Proteste zwar versucht, die Gezi-Anhänger aufzufangen, erklärt Ayata. Allerdings: „Erdoğan hat die Stigmatisierung der HDP gut hinbekommen.“ Inzwischen glaubten viele an die Propaganda der Regierung, dass die links-liberale HDP in Wirklichkeit nicht mehr sei als der lange Arm der kurdischen Guerilla.

Allerdings stehe die HDP auch unter dem Druck der Hardliner aus den Kurdengebieten, die auf Eskalation setzen, meint Ayata. „Ich habe jeden Tag Angst, dass es kippt“, sagt er über die prekäre politische Lage in der Türkei. Zugleich hat er einen Tipp, wie die PKK der AKP-Regierung den Wind aus den Segeln nehmen könnte. Sein Vorschlag: Würde die PKK heute überraschend einen Waffenstillstand verkünden, Erdoğans Eskalationskurs würde sofort ins Leere laufen.

Wirtschaftlicher Boykott gegen die AKP

Danach sieht es allerdings nicht aus. Ganz im Gegenteil: Wie der türkische Journalist Yavuz Baydar auf SZ-Online berichtet, wollen AKP-Funktionäre jetzt sogar ihre eigenen Wähler bewaffnen. Auch einer der anonymen Autoren von „Ekşi Sözlük“, ein Regierungsgegner, schreibt: Eine Pistole und 500 Schuss Munition habe er sich zugelegt – für den Fall, dass AKP-Anhänger seine Haustür eintreten. Es scheint eine Frage der Zeit zu sein bis die Gewalt eskaliert.

Andere setzen auf friedliche Maßnahmen und rufen bei „Ekşi Sözlük“ zum Boykott von AKP-nahen Firmen auf. Ein User erzählt, dass er nicht mehr im nächsten „Bakkal“, dem Tante-Emma-Laden im Erdgeschoss seines Hauses einkaufe. Der Grund: Der Ladenbesitzer sei AKP-Wähler. Das Beispiel zeigt, wie gespalten die türkische Gesellschaft inzwischen ist. Die extreme Polarisierung, die nicht zuletzt von Präsident Erdoğan persönlich angeheizt wird, mache jede Form des breiten zivilgesellschaftlichen Widerstands unmöglich, sind sich viele Autoren bei „Ekşi Sözlük“ einig. Wie in dieser Situation die türkische Demokratie noch zu retten ist, steht somit in den Sternen.

 

Autor*in
Paul Starzmann

ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.

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