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Wenn aus Versagen Schicksal wird

von Mirjam Schmitt · 19. Mai 2014

Nach dem Bergwerksunglück in Soma fordert die Opposition die türkische Regierung dazu auf Verantwortung zu übernehmen. Diese reagiert mit Demonstrationsverbot und erhöhter Polizeipräsenz.

Die Anwälte sitzen auf dem Boden der Istanbuler Einkaufsstraße Istiklal, viele tragen ihre Anwaltsroben, vor ihnen eine Mauer aus Polizisten und  zwei Wasserwerfer, auch die Seitenstraßen sind mit Polizisten der Einsatzpolizei blockiert. Sie fordern die Freilassung ihrer 15 Kollegen, die am Samstag in Soma verhaftet und stundenlang festgehalten wurden. Ein Leichentuch, Kohle und Nelken liegen auf dem Boden, immer mehr Menschen kommen dazu. Sie versammeln sich aus Wut auf Erdogans AKP-Regierung, zur Unterstützung der Anwälte und zum Beistand der Menschen, die ihre Verwandten im Bergwerk verloren haben.

Die türkische Regierung hat die Suche nach Opfern inzwischen für beendet erklärt. Nach Angaben des Energieministers Taner Yildiz starben bei dem Bergwerksunglück in Soma 301 Menschen. Viele Türken glauben die finale Zahl jedoch nicht, sie denken, dass die Regierung etwas vertuschen will. Eine 20-jährige Studentin, die am Wochenende in Istanbul an den Protesten teilnahm, sagt:  „Für mich ist das kein Unfall, es ist Mord. Die Regierung versucht die Zahl der Opfer herunterzuspielen.“ 

Die Demonstration in Istanbul war eine der vielen kleineren Proteste, die am Wochenende gewaltsam aufgelöst wurden. Auch in Izmir und Ankara gingen Menschen auf die Straße. Die Polizeipräsenz ist hoch. In der Stadt Soma errichtete die Polizei Checkpoints und der Gouverneur verordnete ein  Demonstrationsverbot. „Sie nehmen die Menschen sofort fest, wenn jemand demonstrieren will, wir haben nicht die geringste Chance“, sagt ein Einwohner.

Keine politische Verantwortung

Gegen fünf Mitarbeiter der Betreibergesellschaft des Bergwerks, einer Tochterfirma der „Somer Holding“ , wurde inzwischen Haftbefehl erlassen, unter anderem gegen den Betriebsleiter des Bergwerks, Akin Celik. Die Abgeordnete der Oppositionspartei CHP, Safak Parvey, forderte die AKP-Abgeordneten zum Rücktritt auf. Doch politische Verantwortung hat noch niemand übernommen. Nicht der Energieminister und schon gar nicht der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan.

Die Regierungspartei war es jedoch, die Ende April einen Antrag des Politikers Özgür Özel von der CHP, der größten Oppositionspartei, abschmetterte. Dieser wollten die Mine in Soma untersuchen lassen und der Antrag wurde von allen Oppositionsparteien unterstützt. Es gab schon lange Hinweise auf Sicherheitsmängel in dem Bergwerk, schon im Jahr 2010 wies ein Protokoll der türkischen Architekten- und Ingenieurskammer darauf hin. Etwa seien nicht genügend Fluchtwege vorhanden.

Ein Sprecher der Regierungspartei erklärte vor Journalisten die Mine in Soma sei seit 2009 "insgesamt elf Mal gründlich inspiziert worden". Wie solche Inspektionen aussehen, erklärt ein Arbeiter, der jahrelang in der Mine in Soma gearbeitet hat und nun in einer anderen Mine derselben Betreibergesellschaft unter Tage arbeitet.  „Die Inspektoren begutachten die Mine nur oberflächlich. Manchmal verschließen wir Stollen und sagen, dass er außer Betrieb ist, damit die Inspektoren sie nicht kontrollieren können. Wir verstecken alte Geräte, die eigentlich verboten sind“, sagt er.

Die  Betreibergesellschaft stelle Helm, Lampe und Arbeitsschuhe, Handschuhe jedoch müsse er selbst kaufen. 20 Euro gebe er dafür umgerechnet monatlich aus, bei einem Monatsgehalt von umgerechnet 480 Euro. Andere Bergarbeiter berichten ebenfalls von Sicherheitsmängeln und auch, dass ihnen eingebläut wurde nicht mit Journalisten zu sprechen. „Wir haben Angst um unsere Jobs“, sagt der Arbeiter. „Wir sind arm, ich muss meine Familie ernähren und würde keine andere Arbeit finden.“

Erdogan schlägt "aus Versehen"

Die 15 Anwälte, die am Samstag festgenommen wurden, sind inzwischen frei. Anwalt Özgür vom „Verein der zeitgenössischen Juristen“ will  von Istanbul nach Soma reisen, um die Menschen dort weiter zu unterstützen. „Sie üben Druck auf die Bevölkerung aus, damit sie nicht zu viele Fragen stellen. Sie reden den Angehörigen ein, es sei Schicksal, dass ihre Verwandten gestorben sind, dabei sind auch Politiker verantwortlich.“

Das scheint die Taktik der Regierung zu sein: Einschüchterung und Polizeipräsenz. Die regierungsnahen Medien springen dem Ministerpräsidenten wie gewohnt bei. Die Bilder, die zeigen wie Erdogan bei seinem Besuch in Soma vergangene Woche ausgebuht wird, senden sie nicht. Auch nicht das Video, auf dem zu sehen ist, wie vermutlich Erdogan einem Mann in einem Supermarkt einen Fausthieb verpasst. Der Mann mit dem Namen Taner Kuruca sagte der regierungskritischen Zeitung Hürriyet, der Ministerpräsident habe ihn „aus Versehen“ geschlagen. Später revidierte er seine Aussage und sagte, der Ministerpräsident habe ihn vor der Menge schützen wollen und einer seiner Bodyguards hätte ihn geschlagen. Dieselben Bodyguards, die Kuruca später in dem Supermarkt treten und verprügeln, wie das Video sehr deutlich zeigt.

Die Schläger sind noch immer im Dienst. Wird der Druck auf die Regierung zu groß, wird vielleicht doch noch ein Minister der AKP-Regierung zurücktreten. Doch die Opposition ist schwach, die Medien meist unkritisch. Erdogan wiederum wird vermutlich  im Sommer für das Präsidentenamt kandidieren und reist für den Wahlkampf auch nach Köln. Das Volk muss dann im Sommer entscheiden, ob es einen Präsidenten haben will, der am Unglücksort ausrastet und einen Mann von seinen Bodyguards zusammenschlagen lässt.

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Mirjam Schmitt

Mirjam Schmitt ist freie Autorin.

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