Welche Gefahren heute von Tschernobyl ausgehen
„Nach Tschernobyl ist nichts mehr so, wie es vorher war“, schleuderte ein erregter Hans-Jochen Vogel Bundeskanzler Helmut Kohl in einer historischen Bundestags-Debatte entgegen, 18 Tage nach Beginn der Atom-Katastrophe am 26. April 1986. Vogel leitete damit eine Umkehr in der bis dahin atomlastigen Energiepolitik der SPD ein, ohne die die heutige Energiewende undenkbar wäre.
Tschernobyl: 400 mal so viel Radioaktivität wie in Hiroshima
Was war geschehen? Die Reaktorkatastrophe ereignete sich in Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl um 01:23 Uhr nachts. Ursache des Unglücks war eine Kombination aus Schwachstellen des Reaktortyps „RBMK“ und Fehlverhalten des Personals bei einem Reaktor-Test, auf dessen Durchführung die Kraftwerksleitung trotz ungünstiger Bedingungen drängte. So kam es zu einer Dampfexplosion, die den eintausend Tonnen schweren Deckel vom Reaktorkern sprengte.
Drei Sekunden später folgte eine Wasserstoffexplosion. Der Reaktorkern wurde zerstört, brannte zehn Tage lang und schleudert Brennstoff, brennenden Graphit und 400 mal so viel Radioaktivität wie in Hiroshima in den Nachthimmel. Die Feuer wirbelten Radionukleide in hohe Luftschichten, wo sie vom Wind über weite Teile Europas verbreitet werden. Eine europäische Katastrophe über den eisernen Vorhang hinweg nahm ihren Lauf.
Dieser Moment markiert den Anfang des Endes der Atomkraft. Die meisten Opfer sind in der Ex-Sowjetunion zu beklagen. Etwa 100.000 Todesopfer und Hunderttausende Erkrankte und Vertriebene gehören zur erschütternden Bilanz der Katastrophe.
So sieht es heute in Tschernobyl aus
Wie sieht es heute aus in Tschernobyl? Das Kraftwerk liegt 90 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Man fährt mit dem Auto über eine wenig befahrene Landstraße, nach einer Stunde dann ein Grenzposten: Schlagbaum, Kontrollhäuschen, Uniformierte. Passkontrolle: Die 30-Kilometer-Sperr-Zone.
Hinter dem Schlagbaum erst einmal nur Wald. Und dann tauchen schemenhaft ein paar Häuser auf, hier und da eine Siedlung, ein Dorf, aber es gibt keine Wege mehr zu den Häusern, denn auf denen wachsen Bäume – die inzwischen ziemlich genau 30 Jahre alt sind. Nach dem Passieren einer weiteren Kontrolle taucht am Horizont eine gigantische silberne Kuppel auf, die neue Schutzhülle, die zum Ende des kommenden Jahres über den alten, porös gewordenen Sarkophag geschoben werden soll.
Eine neue Schutzhülle wird dringend gebraucht
Klappe zu – Affe tot? Nein, die neue Schutzhülle, Kostenpunkt 1,5 Milliarden Euro, zu der auch die deutschen Steuerzahlerinnen und -zahler über 90 Millionen Euro beigetragen haben, erkauft ein bisschen Zeit. Nicht mehr. Der alte wacklige notdürftig stabilisierte Sarkophag gilt nur bis zum Jahre 2023 als standsicher. Er muss also unter dem Dach der neuen Schutzhülle so schnell wie möglich demontiert werden, bevor er zusammenbricht.
Nur dann ist es möglich, auch die riesige Menge hochradioaktiven Atommülls, die sich darunter befindet, zu bergen und zumindest zwischenzulagern. Bricht der alte Sarkophag aber vorher zusammen, so verteilt sich Plutonium-Staub in der gesamten neuen Schutzhülle und macht sie unbetretbar. In diesem Falle würde die Bergung des Atommülls noch ungleich gefährlicher, langwieriger – und teurer werden. Wieder also ein Wettlauf mit der Zeit.
Die Kosten allein für die Bergung des Atommülls aus dem Sarkophag werden auf einen zweistelligen Milliarden-Betrag Euro geschätzt. Zugleich ist die Ukraine eines der ärmsten Länder Europas und durch den kriegerischen Konflikt mit Russland zusätzlich belastet. Es ist eine unbequeme Wahrheit, aber es sollte unsere moralische Pflicht sein, der Ukraine bei dieser Mammut-Aufgabe zu helfen, mit Rat und Tat – und auch mit Geld.