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Was wir von den Minderheitsregierungen Skandinaviens lernen können

In Deutschland wird eine Minderheitsregierung von vielen verteufelt. Warum eigentlich? In Skandinavien, das wir für Stabilität und Pragmatismus bewundern und das uns weit voraus ist bei Lebensqualität, sozialer Gerechtigkeit und Wettbewerbsfähigkeit, funktioniert das Modell ganz ausgezeichnet. Wir sollten dazulernen.
von Christian Krell · 5. Dezember 2017
Der schwedische Reichstag in Stockholm
Der schwedische Reichstag in Stockholm

Ein Gespenst geht um in Deutschland – das Gespenst der Minderheitsregierung. Anhaltender Wahlkampf, ständige Unsicherheiten und unklare Verhältnisse. Das sind die Sorgen der Gegner eines solchen Modells. Permanente Partnersuche sei für einen „Hochleistungsstaat“ wie Deutschland unmöglich, eine Minderheitsregierung würde zu einer „dramatischen Schwächung“ Deutschlands führen und damit auch ein „Verlust an Führung in Europa“ bedeuten. Wer die Kommentarspalten der Zeitungen liest, gewinnt den Eindruck, dass eine Minderheitsregierung ganz und gar verantwortungslos wäre.

Minderheitsregierung als Normalfall

Im Norden Europas kann man diese Aufregung nicht verstehen. Hier sind Minderheitsregierungen eher der Normalfall als die Ausnahme. In Dänemark waren fast 90 % der Regierungen ohne eigene parlamentarische Mehrheit, in Schweden über zwei Drittel und in Norwegen immerhin noch deutlich über die Hälfte der Nachkriegskabinette. Die Länder, die wir oft für ihre Stabilität und ihren Pragmatismus bewundern und die in allen wichtigen Vergleichen – ob Geschlechtergerechtigkeit, Qualität der Demokratie, Wettbewerbsfähigkeit, Lebensqualität, Einkommensverteilung, Gesundheitsvorsorge – ganz oben in den Rankings stehen, scheinen mit Minderheitsregierungen gut zu fahren.

Konkret gibt es unterschiedliche Modelle von Minderheitsregierungen. Schweden wird aktuell von einer rot-grünen Minderheitsregierung angeführt. Die rot-grüne Regierung unter Stefan Löfven hat dabei mit den Grünen keinen formalen Koalitionsvertrag. In einem ständigen Dialog zwischen den relevanten Parteien werden Gesetzesvorschläge und Vorhaben immer wieder aufs Neue ausgehandelt und nach Mehrheiten gesucht.

Mit und ohne formale Abkommen

In Norwegen und Dänemark hingegeben gab oder gibt es, in unterschiedlichen Ausformungen, formale Abkommen zwischen den Regierungsparteien Die norwegische Premierministerin Erna Solberg etwa lies ihrer Regierungskoalition aus konservativer Høyre und rechtspopulitischer Fremskrittsparti zwischen 2013 und 2017 per Vertrag die Tolerierung durch die christdemokratische Kristelig Folkeparti und der liberalen Venstre zusichern. Eines ist diesen Abkommen allerdings gemeinsam: Sie sind eher Absichtserklärungen und nicht annähernd so detailliert wie etwa der 185 Seiten umfassende Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD aus dem Jahr 2013.

Die Voraussetzungen für die Stabilität dieser Regierungen sind weniger bis ins letzte Details ausgearbeitete Verträge. Es kommt vielmehr auf die politische Kultur und die parlamentarische Praxis an. Die politischen Kulturen in Skandinavien zeichnen sich durch eine hohe Konsensorientierung und einen sachorientierten Pragmatismus aus. Darüber hinaus befördern hohe Hürden für eine Neuwahl den Druck zur Kompromissfindung.

Zentrale Rolle für Parlaments-Ausschüsse

Der Parlamentarismus in den nordischen Ländern wird oft als „negativer Parlamentarismus“ beschrieben. Das bedeutet, dass ein Gesetz angenommen oder eine Regierung bestätigt ist, sofern es keine Mehrheit dagegen gibt. Die nordischen Arbeitsparlamente sind mit erheblichen Befugnissen für Kontrolle und Mitgestaltung ausgestattet, die ihnen auch im europäischen Vergleich ein besonders aktives Agenda-Setting bei der Gesetzgebung erlauben.

Eine besonders wichtige Rolle nehmen gerade in Zeiten von Minderheitsregierungen die parlamentarischen Ausschüsse ein. Sie sind der zentrale Ort der Aushandlung zwischen Regierung und Opposition. Die hohe Bedeutung des Parlaments und seiner Ausschüsse erlauben auch den Oppositionsparteien ein fallweises Mitregieren. Eine Idee nur deshalb abzulehnen, weil sie nicht aus den Reihen der Mehrheitskoalition kommt, ist unwahrscheinlich.

Eigenständigkeit und Kompromiss

Konkret führt diese Praxis zu einer lebendigen politischen Debatte. Die jeweiligen politischen Strömungen müssen sich klar profilieren und für ihre Position werben. Aber sie müssen auch aufeinander zugehen. Der Kompromiss zwischen unterschiedlichen Positionen ist auch hier zwingend nötig. Allerdings ist er nicht von vornherein eingebaut, wie bei einer Koalition, sondern muss in Sachfragen immer wieder neu gefunden werden. Klare Unterscheidbarkeit bei gleichzeitiger Kompromissorientierung – das klingt eigentlich gar nicht schlecht in Zeiten, in denen in Deutschland einerseits immer wieder gefragt wird, wodurch sich CDU und SPD eigentlich noch unterscheiden und in denen wir andererseits eine zunehmende Radikalisierung an den politischen Rändern beobachten.

Ein Allheilmittel ist die Minderheitsregierung nicht. Es gab natürlich auch in den nordischen Ländern Regierungskrisen, auch dort beobachten wir einen zunehmenden Populismus und die Zeiten, in denen allenthalben Astrid Lindgrens Kinderparadies „Bullerbü“ herrschte, sind vorüber. Und einfach zu übertragen sind die skandinavischen Modelle nicht. Aber auch in Deutschland muss niemand das Gespenst der Minderheitsregierung fürchten. Im Gegenteil, sie ist auch in unserem System möglich und ihre Vorteile liegen auf der Hand: Ein lebendiges Parlament, eine strittige und dann kompromissorientierte Entscheidungsfindung, weniger GroKo und mehr Debatte – das können wir von den Skandinaviern lernen.

 

Autor*in
Christian Krell

ist Direktor des Büros der FES für die nordischen Länder mit Sitz in Stockholm, Lehrbeauftragter der Universität Bonn und Mitglied der Grundwertekommission der SPD.

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