„Was sich in Polen abspielt, ist ein Griff nach der Macht“
Am vergangenen Mittwochmorgen erschien Malgorzata Gersdorf um 8.15 Uhr zur Arbeit. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, schließlich ist sie Präsidenten des polnischen Obersten Gerichts. Oder besser: Sie war es. Um Mitternacht trat eine Gesetzesänderung in Kraft, mit der 27 von 73 Richter des Gerichts in den Zwangsruhestand versetzt wurden. Verantwortlich dafür ist die Regierungspartei PiS, die die frei gewordenen Stellen selbst neu vergeben will. Um Druck aufzubauen, hatte die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Es half nichts. Die Richter wurden in den Ruhestand geschickt. Aus Protest verweigerte die geschasste Gerichtspräsidentin Malgorzata Gersdorf ihre Entlassung und kam in einem symbolischen Akt trotzdem zur Arbeit.
Viele Vorwürfe
Das Gesetz sei eine „Zäsur“ und ein „klarer Verfassungsbruch“, sagt Piotr Buras, Leiter des Warschauer Büros der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR). „Dies öffnet den Weg für die politische Übernahme des Gerichtshofs, die letzte unabhängige Instanz in Polen.“ Er befürchte, dass damit auch der Weg frei werde für ein neues Wahlgesetz zur Europawahl, an dem die Regierung arbeite und das die PiS bevorzuge. „Es gibt keine unabhängige Instanz mehr, die dieses Gesetz beurteilen und rückgängig machen könnte“, sagt er bei einer Podiumsdiskussion der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde mit dem Titel „Der illiberale Staat in Ungarn und Polen“.
Die umstrittene Justizreform, Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit, Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit: Die Liste der Vorwürfe gegen Polen ist lang. „Das Gesetz ist kein Einzelfall“, sagt Buras. Es gehöre zu einer Reihe von Maßnahmen der Regierung. Dies sei auch ein europäisches Problem. Am Beispiel Polen entscheide sich, ob in der EU jede Regierung das politische System beliebig umbilden könne oder ob es Prinzipien gebe, an die sich alle Mitgliedsländer halten müssen, so Piotr Buras.
Dialog gefordert
Wie soll die EU reagieren? Im Dezember hatte die EU-Kommission zum ersten Mal ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge wegen möglicher Gefährdung von EU-Grundwerten gegen Polen eingeleitet. Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) dämpft jedoch die Erwartungen. „Es wird keine schöne Lösung geben“, sagt er. „Wir müssen realpolitisch sein und eher effektiven Minimalismus betreiben, anstatt Drohkulissen aufzubauen, die nichts bringen.“
Einen verstärkten Dialog mit Polen und Ungarn über die Grundwerte der Europäischen Union fordert Martin Kremer, Referatsleiter Mitteleuropa im Auswärtigen Amt. Es müsse Verständigung über die gemeinsame Werteorientierung geben, auch wenn dies eine „Mamutaufgabe“ sei, so Kremer.
Sanktionsverfahren gefordert
Zweifel an einer solchen Wertedebatte hegt Piotr Buras vom ECFR. „Wir haben uns bereits über die Werte der EU verständigt.“ Polen habe sich mit seinem Beitritt zur Europäischen Union bewusst dazu bekannt. Für ihn ist deswegen klar: „Was sich in Polen abspielt, ist ein Griff nach der Macht.“ Dies geschehe „politisch sehr kalkuliert“.
Auf die unterschiedliche Reaktion der EU-Kommission bezüglich Polen im Vergleich zu Ungarn weißt Judith Sargentini hin. „In Ungarn sehen wir seit 2010 zwei Schritte vorwärts und einen Schritt zurück. In Polen gibt es keine Schritte zurück. Das macht es einfach zu bestimmen, dass die Kommission einschreiten muss“, sagt die niederländische Grünen-Europaabgeordnete. Als Berichterstatterin des EU-Parlaments hatte sie im April einen Bericht zu Ungarn vorgestellt, der Demokratie und Rechtsstaat in dem Land bedroht sieht. Sargentini forderte deswegen ein Sanktionsverfahren.
Auge zugedrückt
Gegen Polen gehe die EU-Kommission bei Verstößen vor. Im Fall Ungarns fühle sie sich allerdings nicht sicher genug. Es fehle am politischen Willen. „Ich denke, dass es mit christdemokratischen Kommissaren, christdemokratischen Regierungen und Christdemokraten im europäischen Parlament zu tun hat“, so Sargentini.
Dazu muss man wissen: Während die polnische PiS im Europarlament zur Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) gehört, ist die ungarische Regierungspartei Fidesz von Ministerpräsident Viktor Orbán Teil der Europäischen Volkspartei (EVP) – einem Verbund konservativer Parteien, zu dem auch CDU und CSU gehören. Piotr Buras von der Denkfabrik ECFR sagt: „Die EVP und viele andere europäische Parteien, die ein Auge zudrücken, wenn ihre eigenen Mitgliedsparteien die nationalen oder europäischen Rechte verletzen – das ist beschämend."