Was junge Abgeordnete im Europaparlament erreichen wollen
Dirk Bleicker
„Ich werde ernst genommen und bin sehr präsent in den Debatten, die wir in der Fraktion führen. Da wurde ich bisher noch nicht auf mein Alter reduziert“, sagt Delara Burkhardt. Sie ist 27 Jahre alt und damit die jüngste von 96 deutschen Abgeordneten im Europaparlament.
Vieles neu und verwirrend
Auf Platz fünf der SPD-Liste schaffte die junge Frau aus Schleswig-Holstein im Mai 2019 bei der Europawahl den Sprung nach Straßburg und Brüssel. Dort war erst einmal vieles neu und verwirrend. Aufzüge, die in jedem Stock halten, nur in einem nicht. Warum weiß keiner. Treppen, die ins Nichts führen. Scheinbar endlose Korridore. Ein bisschen wie in Hogwarts, Harry Potters Schule der Hexerei, merkt Burkhardts Mitarbeiterin auf dem Weg zu einer Gruppensitzung aller SPD-Abgeordneten schmunzelnd an.
Mit Gaby Bischoff und Katarina Barley gehört Burkhardt dort zu den Neuen. Mit beiden tauscht sie sich intensiv aus. „Ich mache zum ersten Mal haupt-amtlich Politik, Katarina war vorher Bundesjustizministerin. Trotzdem stehen wir hier vor ähnlichen Herausforderungen und sprechen häufig darüber.“ Innerhalb des Parlaments gehören die drei ohnehin der Mehrheit an. Denn 60 Prozent aller Abgeordneten sind zum ersten Mal dabei. Burkhardt ist direkt Mitglied des Umweltausschusses geworden, dem größten Ausschuss im Europaparlament, und widmet sich dort dem Kampf gegen den Klimawandel: „Die Millionen jungen Menschen in ganz Europa, die bei Fridays for Future auf die Straße gehen, zeigen, dass die Frage, wie die EU auf die Klimakrise reagiert, sehr entscheidend ist in unserer Generation.“
Für den „Green New Deal“ ist der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermans als Erster Vizepräsident in der EU-Kommission zuständig. Burkhardt fordert, dabei auch diejenigen steuerlich in die Pflicht zu nehmen, die von der Infrastruktur in Europa profitieren, um den „Green New Deal“ zu finanzieren. Sie sagt: „Der ,Green New Deal‘ betrifft alle Politikfelder und stellt die Frage, wie wir unsere Gesellschaft fit für eine andere Art des Wirtschaftens machen, die gut mit unseren Ressourcen umgeht und soziale Ungleichheit bekämpft.“
Politisch auf Instagram
Mehr als 7.000 Menschen folgen Delara Burkhardt bei Instagram. Die jüngste deutsche Abgeordnete berichtet hier permanent über den politischen Alltag im Europaparlament. An diesem Tag taucht dort auch ein Foto mit der -Influencerin „Kupferfuchs“ auf, die bei Youtube mehr als 200.000 Abonnentinnen und Abonnenten hat. In ihrem Kanal präsentiert sie vor allem vegane Rezepte und ihre eigene, „nachhaltig produzierte“ Produktpalette. An diesem Tag ist „Kupferfuchs“ als Teil der Kampagne „Gemeinsam für EU“ des Europaparlaments mit drei Siegern eines Gewinnspiels unterwegs, um mit Abgeordneten zu sprechen. Von Burkhardt will sie wissen, warum junge Menschen sich für Europa interessieren sollen. „Es ist unsere Zukunft, die dort verhandelt wird. Wenn wir uns nicht zu Wort melden, macht es niemand anderes für uns“, antwortet die 27-Jährige.
Auch Sándor Rónai möchte sich für seine Generation zu Wort melden. Der 31-Jährige ist der jüngste Abgeordnete aus Ostmitteleuropa und schaffte als einer von vier Abgeordneten der „Demokratischen Koalition“ aus Ungarn den Sprung ins Parlament. Er hat es sich zum Ziel gesetzt, die Lohnungleichheit innerhalb Europas zu verringern. „Ich weiß, was es bedeutet, einen ungarischen Lohn zu bekommen. Ich kann den Schmerz der ungarischen Menschen fühlen“, sagt er. Noch vor wenigen Jahren habe er als Verkaufsassistent bei -Decathlon mit 200 Euro im Monat auskommen müssen.
Rónai möchte einen Kontrapunkt zum populistischen und europakritischen Präsidenten Viktor Orbán setzen. Er fordert: „Wir müssen die Vereinigten Staaten von Europa schaffen.“ Denn ein geeintes und starkes Europa sei der einzige Weg, um Populismus zu bekämpfen. Das zu erreichen, sei die Aufgabe seiner Generation: „Wir haben unterschiedliche Fähigkeiten. Wir sprechen unterschiedliche Sprachen, aber wir sind alle Europäer.“
Hektischer als gedacht
Die Bekämpfung des Klimawandels betrachtet der Ungar als wichtigstes Projekt für die verbleibenden vier Jahre. Er sieht die Zukunft Europas eng verbunden mit dem Klimawandel: „Ich habe eine zwei Jahre alte Tochter. Ich möchte ein langes, gesundes und schönes Leben für sie.“ Rónai ist wie Burkhardt Mitglied des Umweltausschusses. „Sie ist sehr talentiert und arbeitet eine Menge“, lobt er seine deutsche Kollegin.
Kernbestandteil der Arbeit eines jeden Abgeordneten sind die Abstimmungen im Plenum. Ein schrilles Läuten sorgt dafür, dass der Ungar sich schnell verabschieden muss. An diesem Novembertag ist einiges anders als sonst. Eine ausführliche Debatte zu 30 Jahren Mauerfall sorgt dafür, dass mancher Zeitplan durcheinander gerät.
„Ich habe erwartet, dass die Arbeit im Parlament intensiv wird, aber sie ist hektischer, als ich dachte“, sagt Evin Incir. Die 35-jährige Schwedin kommt direkt aus dem Plenarsaal zum Interview. Ihr Weg ins Europaparlament war konsequent: Einst war sie Generalsekretärin der IUSY, dem weltweiten Zusammenschluss von sozialdemokratischen Jugendorganisationen aus mehr als 100 Ländern. „Internationale Solidarität lag mir schon immer am Herzen. Denn ich glaube, dass Solidarität nie an Grenzen haltmachen darf.“
Incir wurde in der kurdischen Stadt Diyarbakir im Südosten der Türkei geboren. Nur wenige hundert Kilometer von dort entfernt liegt die ebenfalls von Kurden bewohnte Region Rojava in Nordsyrien. Entsprechend deutlich kritisiert Incir den dortigen Einmarsch der türkischen Armee als „riesige Verletzung des Völkerrechts“. Sie fordert eine stärkere Positionierung des Europaparlaments gegenüber dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdog˘an.
Im Parlament kommt der Schwedin zugute, dass sie durch ihre langjährige internationale Arbeit bereits über zahlreiche Kontakte zu anderen Abgeordneten verfügt. „Wenn es darum geht, spezielle Inhalte umzusetzen, erleichtert es den Prozess“, sagt sie und plant bereits ein weiteres Netzwerk. Gemeinsam mit dem italienischen Abgeordneten Brando Benifei will sie für einen stärkeren Austausch der Abgeordneten unter 40 Jahren in der S&D-Fraktion sorgen.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo