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Vor der Europawahl: Was ein extrem rechtes Europa bedeuten würde

Die Europawahl am 9. Juni könnte ein politisches Erdbeben auslösen. Alle Umfragen gehen davon aus, dass EU-skeptische, rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien zulegen werden. Das ist Teil eines deutlich größeren Problems.

von Kay Walter · 30. Mai 2024
Europaflaggen im Brüssel

Am 9. Juni finden in den 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union Wahlen zum Europäische Parlament statt

Geht es um eine rechtsextreme Bedrohung für das gemeinsame Europa und seiner Werte ist bislang vor allem vom prognostizierten weiteren Erstarken der zwei ultrarechten Fraktionen im Parlament die Rede. Doch das ist zu kurz gegriffen. Zeigten bereits die Avancen, die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) und besonders der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni macht, wohin die Reise in der Kommission gehen könnte, ändern sich nun mit der Regierungsbildung in den Niederlanden auch die Kräfteverhältnisse im Europäischen Rat, also der mächtigsten Säule der EU-Politik nach Rechtsaußen.

Geert Wilders und die Niederlande

Nach sechs Monaten ist es in den Niederlanden dem dortigen Wahlsieger und Rechtsaußen Geert Wilders gelungen, eine Regierungskoalition zu bilden. Möglich gemacht haben das die liberale Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) des bisherigen Regierungschefs Mark Rutte und die neue Partei Neuer Gesellschaftsvertrag (NSC) des ehemaligen Christdemokraten Pieter Omtzigt. Auch wenn Wilders zum Erreichen dieser Koalition darauf verzichten musste, selbst Regierungs-Chef zu werden, dominieren und lenken wird er sie. Er dürfte aus dem Hintergrund die Strippen ziehen, ähnlich wie es Jarosław Kaczyński in Polen jahrelang betrieben hat. Und „ganz nebenbei“ ist der bisherige niederländische Konsens, keine Zusammenarbeit mit Ultrarechts, geschleift.

Inhaltlich hat Wilders als Hauptziel angekündigt, das „härteste Asylrecht aller Zeiten“ zu bauen. Die EU-Gesetze werde man durch eine sogenannte Opt-out-Klausel umgehen. Dass es eine solche Klausel gar nicht gibt, wird ihn nicht daran hindern, sie einzufordern und geltend zu machen. Der Ton gegen Migrant*innen in der EU wird sich weiter verschärfen. 

EKR-Fraktion wächst: Ungarn, Italien, Tschechien 

Mehr noch: Das antidemokratische Lager innerhalb des Europäischen Rates, der Versammlung der 27 Regierungschef*innen wird gestärkt. In Ungarn und Italien stellen rechtspopulistische Parteien mit Victor Orban und Giorgia Meloni direkt den Regierungschef. Die Partei des tschechischen Ministerpräsidenten Petr Fiala (ODS) ist ebenfalls Mitglied der EKR-Fraktion. Deren Kernbekenntnis ist ein „Europa unabhängiger Nationen, die zum gegenseitigen Vorteil zusammenarbeiten, während jede ihre Identität und Integrität bewahrt“. Der Satz von Björn Höcke, die Europäische Union müsse sterben, „damit das wahre Europa leben kann“, klärt, worum es beim „Europa der Vaterländer und unabhängigen Nationen“ wirklich geht.

Premier Kristersson ist in Schweden mit Hilfe der rechtsnationalen Schwedendemokraten im Amt und in Finnland bestimmt der konservative Petteri Orpo im Bündnis mit der rechtspopulistischen Finnen-Partei nur mit der zusätzlichen Unterstützung der rechtsextremen „Wahren Finnen“ die Regierungspolitik. Jetzt reihen sich die Niederlande in diese Riege ein. Und auch wenn die Regierung der Slowakei unter Robert Fico ursprünglich aus dem sozialdemokratischen Lager stammt, inhaltlich verfolgen sie die nämliche, stramm antidemokratische Linie.

Vier Sozialdemokrat*innen 

Diesen sieben stehen mit Robert Abela (Malta), Mette Frederiksen (Dänemark), Pedro Sanchez (Spanien) und Olaf Scholz nurmehr vier Sozialdemokraten gegenüber. Man gebe sich keinen Illusionen hin: So unterschiedlich die Positionen der Sieben, so zerstritten sie weiterhin sind, sie werden lauter werden und ihre Politikvorstellungen durchzusetzen suchen.

Wer daran glaubt, Giorgia Meloni bliebe in Brüssel so relativ zurückhaltend wie bisher, der möge sich ihre Töne im italienischen Wahlkampf anhören. Wie auch Orban wird sie zwar auf Gelder aus Brüssel angewiesen bleiben, aber ihr Obstruktionspotential wird ebenso steigen, wie ihre Möglichkeiten zur Blockade der EU-Politik. Und um die Handlungsfähigkeit der EU auf Null zu bringen, bräuchte das ultrarechte Lager sich noch nicht einmal auf gemeinsame Linien zu einigen. Nein zu sagen, reicht aus.

Kommission wird sich ändern

Von einer „Brandmauer gegen Rechts“ kann in der EU jedenfalls keine Rede mehr sein. Von der Leyen sowie der Vorsitzende der Europäische Volkspartei (EVP), Manfred Weber, machen sich nicht einmal mehr die Mühe, das zu kaschieren. Mag Webers langjährige Freundschaft zu Orban zuletzt ins Trudeln geraten sein, umwirbt von der Leyen nun offensiv Meloni. Alle Erfahrung zeigt, die Annäherung weicht nicht etwa die Positionen der Extremen auf, sondern sie macht sie im Gegenteil gesellschafts- und mehrheitsfähig, bringt sie in die sogenannte Mitte.

Vor allem aber wird sich die Zusammensetzung der Kommission, also der europäische Exekutive, verändern. Auf welche Macht wollen Sozialdemokrat*innen und erst recht Liberale ihre Forderung nach Teilhabe in der Kommission stützen, wenn sie sich sowohl im Parlament als auch im Rat in einer Minderheitenrolle wiederfinden? Tradition wird nicht reichen. 

Gleichwohl ist es richtig, dass die S&D-Vorsitzende Iratxe García Pérez die enge Zusammenarbeit von Sozialdemokrat*innen und Konservativen schon letztes Jahr für beendet erklärt hat. Nur so kann weitere Annäherung von Christdemokrat*innen an Rechtsaußen bekämpft werden, abgesehen von eigener Stärke. Und damit zum EU-Parlament, der dritten Säule.

Mehrheitsbildungen künftig schwierig

Zusammengenommen erwarten die beiden rechtsextremen Fraktionen, die EKR um Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und die Fraktion Identität und Demokratie (ID) um Marine Le Pens Rassemblement National über 160 Mandate im zukünftigen EU-Parlament: und damit nicht nur einen Zuwachs um ein gutes Drittel, sondern auch ein knappes Viertel aller Sitze im Parlament. Mindestens. Das wäre deutlich mehr als die Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament (S&D); im schlimmsten Fall erreichen sie sogar das Niveau der EVP.

Die beiden traditionell größten Fraktionen im Europäischen Parlament, die EVP und die S&D, würden insgesamt nur noch 313 Abgeordnete (177 die EVP und 136 die S&D) stellen. Das wäre der niedrigste Wert seit 1979 und vor allem mit 43 Prozent weit von der Mehrheit entfernt. 

Verlieren - so sehen es die Prognosen – dürften vor allem Grüne und Liberale Parteien. Aber entscheidend ist, dass Mehrheitsbildungen im Parlament extrem erschwert werden, von einer konstruktiven Kontrolle der Kommission ganz zu schweigen.

Was die EU lahmlegen könnte

Die EU abzuschaffen, fordert keine Partei mehr laut, schon aber die rigorose Veränderung der Institutionen, bis hin zu einer EU ohne Parlament, am lautesten die AfD. Bei Abstimmungen votieren die beiden rechtspopulistischen Fraktionen unterschiedlich, selbst bei den Themen Migration oder Ukraine, aber zwischen ihnen herrscht inhaltlich und personell große Dynamik und Wechsel und Übertritte sind an der Tagesordnung. 

Meloni unterstützt den EU-Migrationspakt und eine gerechtere Binnenverteilung der Geflüchteten, was von der polnischen PiS-Partei und der ungarischen Partei Fidesz genauso abgelehnt wird wie von der AfD. Und die Nähe zu Russland wirkt spaltend. Die AfD, die französische RN, aber auch die FPÖ in Österreich positionieren sich russlandfreundlich, während die PiS davon nichts wissen will. 

Einig ist man aber immer in der Frage, dass die EU zuallererst Geld bereitstellen, aber ansonsten so wenig wie irgend möglich eingreifen soll, schon gar nicht in Fragen der Rechtsstaatlichkeit, der Unabhängigkeit von Gerichten oder dem Umgang mit Minderheiten. Aber konstruktive Einigkeit braucht es auf Seiten der Rechten auch nicht. Stimmt ein Viertel der Abgeordneten prinzipiell und bei jedem Vorschlag mit NEIN, ist die EU schnell lahmgelegt. Und das kann sie sich nicht lange leisten. Dann ist die reaktionäre Mär, die EU sei unnötig, ja ein Hindernis, die nur alles blockiere, schnell belegt, quasi als sich selbst erfüllende Prophezeiung.

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Kay Walter

ist freiberuflicher Journalist in Paris.

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