Was die Unterhauswahl in Großbritannien für Labour bedeutet
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Um es gleich zuzugeben: Ich war ebenso überrascht wie viele andere auch, als Labours Umfragewerte kurz vor der Unterhauswahl drehten und der Vorsprung der Tories auf einmal dahinschmolz. Gewünscht? Gehofft? Sicher! Trotz der Zweifel, die auch ich öffentlich gegenüber Corbyn geäußert hatte. Obwohl ich der Meinung bleibe, dass sein Brexit-Ausverkauf unverzeihlich ist: Mit der Ankündigung der Neuwahl war für viele, auch für mich, klar, dass ich Labour unterstützen, wählen, für diese Partei die Trommel rühren würde.
Die Konservativen haben das Land gespalten
Für Nicht-Briten ist das politische Klima auf der Insel manchmal schwer zu verstehen. Als ich groß geworden bin, hieß die Premierministerin noch Margaret Thatcher. Mein Vater war Liberaldemokrat, ein zutiefst sanfter Mensch, der liberal dachte und handelte. Wir teilten unseren Zorn auf die britischen Konservativen, die sich schon damals immer mehr als die Rechtspopulisten entpuppten, die sie heute sind, denn es war der rechte Flügel, der seinerzeit die Partei regelrecht kaperte. Sie führten Krieg gegen die Armen, ihre Abgeordneten sprühten vor Verachtung gegenüber den Ausgestoßenen und Gescheiterten.
Als Jugendlicher habe ich geheult vor Wut, als ich die Siedlungen aus Pappkartons in London sah – diese Obdachlosen hatten laut der menschenverachtenden Ideologie Thatchers (und heute Mays) die „falsche“ Marktstrategie, sie sollten selbst Schuld tragen an ihrem Elend, während andere in Lamborghinis zu Partys düsten, auf denen sie sich mit Veuve Cliquot besoffen.
New Labour stellte Neoliberalismus nicht in Frage
Als deutscher Sozialdemokrat gehe ich gerne auch mit Freunden von der CDU einen Kaffee trinken. Als britischer Sozialist würde ich den Kaffee einem Tory eher ins Gesicht schütten, als mir dessen Genuss durch die Anwesenheit eines Konservativen zu versauen. Meine erste „politische“ Tat im Alter von 12 Jahren war es, eine Stinkbombe bei einem konservativen Club zu platzieren – nicht, dass es ihrer bedurft hätte. Der Gestank kalter Herzlosigkeit, der von diesem Verein herauswehte, war weitaus schlimmer. Thatcher hat das solidarische Großbritannien verschüttet. Der Gedanke, einem Gestrauchelten die Hand zu reichen, ihn gemeinsam wieder hochzuziehen, galt zu lange als Marktverzerrung.
Auch unter New Labour wurden die neoliberalen Dogmen nicht infrage gestellt, vielmehr etwas moderner aufgehübscht: Cool Britannia wurde zum Markenzeichen. Unter der Oberfläche aber gärte es weiter. Als mit Corbyn erstmals einer auf den Plan trat, der damit Schluss machen, das Land wieder menschlicher machen wollte, war die Euphorie entsprechend groß, groß aber auch die Enttäuschung, als er uns beim Thema Brexit hängen ließ, dieses Herzensanliegen dumpfbackiger Nationalisten aus der Provinz.
Junge Menschen für Jeremy Corbyn
Als May aber Neuwahlen ankündigte, war trotzdem klar: Jetzt ging es ums Ganze. Corbyn mag Fehler haben, aber er ist einer von uns. Er hat den Rassismus der Konservativen angeprangert, wurde von Polizisten weggetragen, als er gegen die südafrikanische Apartheid protestierte, während die britischen Apartheitsfreunde von den Konservativen Mandela noch einen Terroristen schalten, der „erschossen werden sollte“.
Das haben inzwischen auch viele junge Menschen verstanden, die sich von May nicht mehr länger rumschubsen lassen wollen. Die Wut über den erneuten Anstieg der Studiengebühren, das autoritäre Gehabe der Konservativen, die Beschimpfungen als Trotzkisten und Staatsumkrempler: All das hat nicht May in die Hände gespielt, sondern Corbyn, denn umkrempeln, ja: Genau das wollen wir!
Unterstützung aus der Mittelschicht für Labour
Zur Wahl stand nun nichts weniger als eiskalter Egoismus gegen menschliches Miteinander. Dieser angeblich so verrückte Gedanke, dass Politik nicht schmutzig, Armut kein selbstgewählter Lebensstil, Mitmenschlichkeit eine Tugend und keine Schwäche ist, hat enormen Aufwind erhalten. Corbyn und seine WählerInnen haben gezeigt, dass eine auf diese Grundgedanken rückbesonnene Sozialdemokratie nicht baden gehen muss, sondern 40 Prozent und mehr Zustimmung finden kann.
May mag nun weiter vor sich hindümpeln, und zwar dank der Stimmen einiger fanatisierter, homophober, kreationistischer Evangelikaler, die den Klimawandel für Fiktion halten und Terroristen gutheißen, wenn sie denn nur von sich behaupten, Protestanten zu sein. Die Dialektik aber hat längst die Gegenbewegung dazu auf den Plan gerufen, und diese stößt immer tiefer ins konservative Südengland vor. Gut möglich, dass sich Labour damit wandelt, weg von einer klassischen Arbeiterpartei, und die neue Unterstützerbasis eher moralisch motiviert ist und aus der Mittelschicht stammt. Wer sagt, dass das schlecht sein muss?
ist Mitglied der Labour-Party sowie der SPD und aktiv im Ortsverein Ludwigsburg (Baden-Württemberg).