International

Warum wir mehr Dialog mit Russland wagen sollten

Europa sollte neue Schritte zum Gespräch und zur Kooperation mit Moskau versuchen. Es geht um Wege aus der Konfrontation. Diese dürfen aber nicht dazu führen, Russlands Politik der Einflusssphären zu akzeptieren: Die Unverletzlichkeit der Grenzen und das Gewaltverbot sind nicht verhandelbar.
von Rolf Mützenich · 26. März 2019
Schwieriger Gesprächspartner: Russlands Präsident Wladimir Putin, hier am 22. März 2019 während einer Sitzung des russischen Sicherheitsrates im Moskauer Kreml.
Schwieriger Gesprächspartner: Russlands Präsident Wladimir Putin, hier am 22. März 2019 während einer Sitzung des russischen Sicherheitsrates im Moskauer Kreml.

Wenn Sozialdemokraten für neue Initiativen in der Russlandpolitik werben, bekommen sie in der Regel von interessierter Seite das Etikett „naiver Russland-Versteher“ angeklebt. Deshalb vorweg: Ja, der russische Staat hat das Völkerrecht gebrochen, versucht offenkundig, die EU und die westlichen Demokratien zu destabilisieren, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass er Einfluss auf Wahlen und Volksabstimmungen genommen hat. Auch die Demokratiedefizite sind offensichtlich und die Lage der Menschenrechte nicht akzeptabel.

Spannungen abbauen in hochexplosiver Lage

Und es macht die Lage auch nicht besser, dass im Weißen Haus seit zwei Jahren ein wild um sich twitternder, unberechenbarer Präsident amtiert, der weder vor der Verbreitung von Falschnachrichten, noch vor Konfrontation und Eskalation zurückschreckt.

Doch was folgt daraus? Wie geht man mit dieser hochexplosiven und schwierigen Ausgangslage um? Wir sind der Überzeugung: Gerade weil die Situation so problematisch und zunehmend gefährlich ist, haben wir allen Anlass, darüber nachzudenken, wie Spannungen abgebaut werden können, damit sie zumindest beherrschbar bleiben.

Spirale der Vorwürfe überwinden

Mit der Kündigung des Iran-Abkommens, dem drohenden Ende des INF-Vertrags und der womöglich ausbleibenden Verlängerung des New-Start-Abkommens, das 2021 ausläuft und die Zahl der strategischen Waffen begrenzt, droht ein völliger Zusammenbruch der internationalen Rüstungskontrollarchitektur mit unabsehbaren Folgen für die globale Sicherheit. Die regelbasierte internationale Ordnung insgesamt steht auf dem Spiel. Wir stehen am Beginn eines neuen nuklearen Rüstungswettlaufs und nationaler Alleingänge zahlreicher Verbündeter.

Aus diesem Grunde führt der deutsche Außenminister Heiko Maas in Moskau und Washington Gespräche, um Wege aus der Logik der schrittweisen Eskalation zu suchen und sich nachdrücklich für den Erhalt des INF-Vertrags und der internationalen Rüstungskontrollregime einzusetzen. Das kann man von der Seitenlinie aus wohlfeil kommentieren und kritisieren. Die Kritiker müssen sich jedoch die Frage gefallen lassen, was die Alternativen und deren außenpolitischen Konsequenzen wären. Sollen wir taten- und kritiklos Donald Trump und Wladimir Putin in einen neuen Kalten Krieg folgen oder ist es nicht besser, alles zu versuchen, diesen abzuwenden – trotz aller Hindernisse und Ungewissheiten? Soll man weiter Öl ins Feuer gießen oder ist es nicht vernünftiger, die Spirale der gegenseitigen Beschuldigungen, Vorhaltungen und Denkverbote zu überwinden?

Neue Initiativen und Formate nötig

Wir sind überzeugt: Statt Schwarz-Weiß-Denken brauchen wir eine Politik, die mit neuen Initiativen und Formaten dazu beiträgt, Blockaden aufzubrechen und aus Sackgassen herauszukommen. Eine Politik, die von der Akzeptanz und einer nüchternen Analyse des Status quo ausgeht und versucht, diesen mit einer pragmatischen Politik der kleinen Schritte zu überwinden. Die von Egon Bahr konzipierte und von Willy Brandt umgesetzte Ost- und Entspannungspolitik der 1960er- und 1970er-Jahre war genau dies.

Im Ergebnis war diese Politik von Erfolg gekrönt. Auch heute braucht die deutsche und europäische Außenpolitik einen solchen langfristig angelegten ebenso klaren wie pragmatischen Kurs für Rüstungskontrolle, Abrüstung und Entspannung.

Russland und Europa brauchen einander

Wir haben aus verschiedenen Gründen ein Interesse an einer Kooperation mit Russland – genauso wie Russland an einer Kooperation mit uns interessiert ist. China weiß sehr genau um die wirtschaftlichen Schwächen Russlands – und erzwingt ungerührt sehr günstige Konditionen für den Zugang zum russischen Markt. Diese Erfahrungen haben in Moskau zu erheblicher Ernüchterung geführt. Deshalb ist es sinnvoll und notwendig, gemeinsame Interessen zu finden.

Dies wird nur zusammen mit unseren europäischen Partnern geschehen. Deutschland und die EU müssen auch weiterhin auf kooperativen Multilateralismus statt auf egozentrierten Unilateralismus setzen. Auch schwierige Partner in multilaterale Ansätze einzubinden, ist keine Prinzipienlosigkeit, sondern Einsicht in das Machbare und in die Erkenntnis, dass Druck allein keine Verhaltensänderung bewirken kann.

Kluge Diplomatie statt Säbelrasseln

Zudem kommt es gerade auch im Umgang mit schwierigen Partnern auf Klarheit und europäische Gemeinsamkeit an. Die Debatte um Nord Stream 2 unterstreicht zum Beispiel erneut die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Energiepolitik. Rückwirkende Folgen für einmal getroffene Entscheidungen würden dieses Ziel erschweren. Mehr noch: Sie würden die Bemühungen der Bundesregierung konterkarieren, für die ukrainische Transitroute Sicherheiten und Modernisierungen zu erreichen.

Deutsche und europäische Außenpolitik müssen durch kluge Diplomatie dazu beitragen, den beiden großen Nuklearmächten USA und Russland zu helfen, ihre gefährliche Sprachlosigkeit zu überwinden. Wir machen uns dabei keine Illusionen: Die russische Regierung wird den inneren und äußeren Kurs nicht von heute auf morgen ändern.

Multilateralismus schwer unter Druck

Tatsache ist, dass der Multilateralismus als Prinzip enorm unter Druck steht – auch innerhalb der EU. Es gilt deshalb, bestehende Institutionen wieder besser zu nutzen, zu reformieren und mit neuem Leben zu erfüllen, wie die Bekräftigung der deutsch-französischen Partnerschaft durch den neuen Aachener Vertrag.

Trotz aller Rückschläge und Enttäuschungen dürfen wir in unseren Bemühungen nicht nachlassen und müssen gerade auch dann, wenn es schwierig ist, Kurs halten. Wenn sich Reagan und Gorbatschow von der damals sehr viel ungünstigeren Ausgangslage entmutigen hätten lassen, wäre es niemals zum INF-Vertrag von 1987 gekommen.

Mehr Gespräche mit Moskau suchen

Warum nehmen wir Moskau nicht beim Wort und bieten ihm neue Beziehungen und Kontakte zu den von ihm dominierten Institutionen wie der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) und der Organisation für den Vertrag über kollektive Sicherheit (OVKS) an? Dies hätte zum einen den Vorteil, dass die Interessenkonflikte „regionalisiert“ würden und sich nicht nur Russland und „der Westen“ gegenüberstünden, sondern die EU und die EAWU (Russland, Belarus, Kasachstan, Armenien und Kirgistan) und – unter dem Dach der OSZE – die NATO und die OVKS (Armenien, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Belarus und Russland). Zum anderen käme man damit dem russischen Bedürfnis nach „Augenhöhe“ entgegen. Warum nützt man nicht noch mehr die Möglichkeiten, die der NATO-Russland-Rat und die OSZE bieten?

Alle notwendigen Kooperationsangebote an Russland dürfen aber nicht dazu führen, dass der Westen eine neue Politik der Einflusssphären in Europa akzeptiert und die eigenen Grundsätze über Bord wirft. Die Unverletzbarkeit der Grenzen und das Gewaltverbot als Basis des Völkerrechts und Garant für Frieden auf dem europäischen Kontinent sind nicht verhandelbar.

Kein neuer Kalter Krieg

Wir müssen dennoch alles in unserer Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass die Zeit nach dem Kalten Krieg im Rückblick einst als die Zeit zwischen den Kalten Kriegen gelten wird. Deutschland und Europa dürfen niemals wieder zum Austragungsort atomarer oder konventioneller Kriegsspiele werden. Kluge Außenpolitik kann nicht warten, bis überall Demokratien existieren, sondern sie bewährt sich gerade im Umgang mit Andersdenkenden.*

* Dieser Text wurde zuerst im „Hauptstadtbrief“ veröffentlicht.

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