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Warum Theresa May keine Mehrheit für den Brexit-Deal bekommt

Theresa May ist vorerst mit ihrem Versuch gescheitert, ihren Brexit-Deal durchs britische Parlament zu bringen und muss sich einem Misstrauensvotum stellen. Überraschend ist das nicht, denn May hat die tiefe Spaltung der britischen Gesellschaft unterschätzt. Das rächt sich nun.
von Christos Katsioulis · 12. Dezember 2018
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Der Brexit ist vermutlich der erfolgreichste Spaltpilz seit Tullius Destructivus in „Streit um Asterix“. Ausgesät 2016 in einer von tiefen Widersprüchen und Verwerfungen geprägten Gesellschaft hat er ganze Arbeit geleistet. Die Situation, in der sich Großbritannien Ende 2018 befindet, ist chaotisch und es ist vollkommen unklar, wie es in den nächsten Tagen oder Wochen weitergehen wird. Die einzige beruhigende Tatsache ist, dass Weihnachten wohl weiterhin am 24. Dezember stattfinden wird.

Kompromisse gibt es kaum

Aber fangen wir vorne an: Das Brexitvotum 2016 endete mit einem knappen 52:48 Ergebnis für den Austritt aus der EU. Schon dieses Ergebnis machte klar: Großbritannien ist ein gespaltenes Land. Etwa 20 Prozent harten Brexitbefürwortern steht etwa die gleiche Zahl kompromissloser EU-Verbleiber gegenüber. Die breite Gruppe dazwischen ordnet sich in Nuancen einem jeweiligen Lager zu. Kompromisse oder gar Verständigung zwischen den beiden Seiten gibt es kaum. Dies ist auch der Grund, warum es Theresa May nicht gelungen ist, eine breite Koalition hinter ihrem Deal zu vereinen. Die Ursachen für diese Kluft liegen weniger in der jeweiligen Position zu Europa.

Verantwortlich ist vielmehr ein Mix von gesellschaftlichen Problemen des Landes, die seit Jahren unbearbeitet sind: die tiefe Kluft zwischen London und dem Rest des Landes, die Folgen der Austerität und die soziale Ungleichheit. Die Sparpolitik seit der Finanzkrise 2008 hat ganze Landstriche schwer getroffen, dort fehlt es an grundlegender Infrastruktur wie Altenpflege, Straßenreinigung oder auch ganz simpel an Busverbindungen. Die soziale Ungleichheit im Land wächst stetig und verfestigt sich immer mehr. Es bleibt der Eindruck, in einem unfairen System zu leben. Viele dieser Aspekte waren Faktoren für das Brexitvotum, sei es, weil man Europa als Teil dieses Systems begriffen hat, sei es, weil viele Wählerinnen und Wähler in dieser Abstimmung die Chance sahen, sich Gehör zu verschaffen.

Theresa May muss die Tories zusammenhalten

Premierministerin Theresa May ignorierte die komplexen Ursachenbündel des Votums, sie hatte Wichtigeres zu tun. Sie musste ihre eigene Partei zusammenhalten. Seit dem Referendum und noch mehr seit ihrer vergeigten Parlamentswahl 2017, als sie die Tory-Mehrheit verspielte und sich damit der Unterstützung der nordirischen Unionisten auslieferte, fokussierte sie sich allein auf den Brexit. Dabei verfolgte sie eine Taktik der politischen Maximalversprechen, um ihren disparaten Tory-Laden zusammenzuhalten.

Die Schreihälse und Störenfriede bei den Tories sind traditionell die Europagegner und diesen hat die Premierministerin in den vergangenen Monaten stets versichert, dass all ihre Fantasien mit dem Brexit in Erfüllung gehen würden. Freihandel auf allen Weltmeeren, das Verlassen von Zollunion und Binnenmarkt, das Ende der Arbeitnehmerfreizügigkeit, das Ende der Beitragszahlungen und die vollständige Rückgewinnung der nationalen Souveränität, all das sei drin und dazu sogar wieder blaue Pässe.

Der Brexit-Spaltpilz entwickelt Wirkung

Die tatsächlichen Schwierigkeiten vieler Brexitwählerinnen und -wähler blieben dabei vollkommen unberücksichtigt. Davon profitierte Labour in den Wahlen von 2017, weil Jeremy Corbyn den Schwerpunkt weg vom Brexit, hin zu sozialen Fragen lenkte. Selbst dieser Schuss vor den Bug brachte Theresa May nicht zum Umdenken; sie setzte ihren Brexitkurs fort. Der Umstand, dass eine solch weitreichende Entscheidung auf der Basis eines 52:48 Votums auch Kompromisse und Zugeständnisse erfordern könnte, hat sich erst in den letzten Tagen in ihre Rhetorik verirrt.

Bis dahin hatte der Brexit-Spaltpilz aber seine Wirkung getan. Der von May ausgehandelte Kompromissdeal, auch wenn er so nicht genannt wurde, jagte schnell alle unterschiedlichen Lager in ihre jeweiligen Wagenburgen. Den Brexiteers waren die Zugeständnisse für eine offene Grenze in Irland zu groß, die nordirischen Unionisten lehnten jede Differenzierung zwischen Nordirland und dem Festland ohnehin ab. Die Verbleibfraktion wurde von der Vorstellung in Angst und Schrecken versetzt, dass Boris Johnson und David Davies den Brexit prägen würden. Und die Labour-Partei wartete ohnehin nur in der Galerie auf das Zusammenbrechen dieses fragilen Gebildes. Dabei konnte sie genüsslich darauf verweisen, dass seit dem Referendum eigentlich kaum mehr regiert wurde und das Land einem ohnehin ungewissen Brexit entgegentreibe.

Mays Nehmerqualitäten helfen ihr nicht

Die Stunde der Wahrheit hat nun geschlagen und Theresa May gibt ein merkwürdiges Bild ab. In einer Mischung aus Don Quijote im Kampf gegen die europhoben Windmühlen ihrer Partei und Oliver Kahn mit seinem Mantra „Immer weiter, immer weiter“ hat sie sich erstaunlicherweise den Respekt vieler Bürgerinnen und Bürger erkämpft. Sie erkennen ihr stetes Bemühen auch gegen Widerstände an sowie die Beharrlichkeit, mit der sie noch jeden Angriff oder Rücktritt von Kabinettsmitgliedern überstanden hat.

Doch die Nehmerqualitäten helfen ihr nicht sonderlich bei der Überwindung der Spaltungen. Ihr Labour-Gegenspieler Jeremy Corbyn hat ihre „there is no alternative“ Strategie treffend entlarvt, als er im Parlament anmerkte: „Wenn ihr Deal der einzige und der beste ist, dann ist er laut Definition auch der schlechteste Deal.“ Aber auch Corbyn bietet keine klar erkennbare Alternative an. Eine unverbundene Melange aus „jobs-first-Brexit“, Respekt für das Referendum, binnenmarktnahe Anbindung und Zollunion, aber trotzdem eigene Handelsverträge ist das Angebot von Labour.

Ein People's Vote als Ausweg?

Die Hoffnung im Lager von Corbyn ist weiterhin, dass die Tories über den Brexit zu Fall kommen werden, Neuwahlen ausgerufen werden müssen und der knapp verpasste Wahlsieg von 2017 für Labour dann endlich in Reichweite ist. Sollte das nicht gelingen, würde sich Corbyn zähneknirschend für ein zweites Brexit-Referendum aussprechen, in dem die Bürgerinnen und Bürger über Mays Deal abstimmen sollen. Dieses so genannte People’s Vote zeichnet sich zunehmend als letzter Ausweg eines blockierten politischen Systems ab. Angesichts der Tatsache, dass Regierung und Parlament nicht in der Lage waren, sich auf einen gemeinsamen Weg zu verständigen, soll dann eben die Bevölkerung das letzte Wort haben.

Das Problem eines People’s Vote und auch der anderen diskutierten Auswege ist, dass sie die nachhaltige Wirkung des Brexit-Spaltpilzes nur kurzfristig verdecken können. Die tiefen gesellschaftlichen Risse und Verwerfungen kann kein Procedere, aber auch kein wie auch immer gearteter Brexitdeal überwinden. Der Streit wird daher weitergehen und er wird noch erbitterter und kompromissloser geführt werden. Unter diesen Umständen ein zweites Referendum zu erwägen, kann verschärfend wirken. Schon jetzt werden Gegner als Verräter oder Kollaborateure bezeichnet, die verschiedenen Seiten haben sich tief in ihre Schützengräben eingebunkert.

Der Umstand, dass seit zwei Jahren nur an der Oberfläche diskutiert wird und die tieferen Ursachen des Brexit ausgeblendet wurden, rächt sich jetzt. In der jetzigen Situation gibt es in Großbritannien (und Europa) nur Verlierer. Tullius Destructivus würde gelb werden vor Neid.

Der Text erschien zuerst im IPG-Journal unter dem Titel „Der erfolgreichste Spaltpilz“.

Autor*in
Christos Katsioulis

leitet das Regionalbüro für Zusammenarbeit und Frieden der Friedrich-Ebert-Stiftung in Wien. Zuvor leitete er die Büros der FES in London, Athen und Brüssel.

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