Warum sich Erdoğan mit den Neuwahlen in Istanbul verrechnet haben könnte
Die Bürgermeisterwahl in Istanbul muss am 23. Juni wiederholt werden. Für diese Entscheidung von Montagabend hatte der oberste türkische Wahlrat 36 Tag gebraucht. Er zögerte sie hinaus, wandt sich, ließ immer wieder Stimmen neu auszählen. Erdoğans AKP und ihr ultrarechter Bündnispartner MHP hatten das Ergebnis der Istanbuler Bürgermeisterwahl, bei der sie knapp unterlagen, immer wieder angefochten. Ihre Begründung: Bei der Wahl hätten rund 40.000 unberechtigte Wähler teilgenommen, zudem seien entgegen der Vorschriften nicht an jeder Urne Beamte anwesend gewesen. Untersuchungen der Wahlbehörde zeigten: Die Vorwürfe waren kaum haltbar, Wahlexperten sahen keinen Grund für Neuwahlen.
Wahlrat bleibt Begründung schuldig
Trotzdem gab der Wahlrat letztlich dem Druck Erdoğans nach. Mit vier von sieben Stimmen stimmte er für Neuwahlen - selbst der Vorsitzende des Wahlrates stimmte dagegen. Eine genaue Begründung für seine Entscheidung blieb der Rat bisher schuldig. Seither brodelt es in der Türkei, wieder einmal. Am Montagabend gingen in manchen Istanbuler Stadtteilen die Menschen auf die Straße oder klopften von ihren Fenster mit Löffeln auf Töpfe und Pfannen, wie schon zu Zeiten der Gezi-Proteste.
Jahrelang hatte die Regierungspartei AKP betont, das türkische Wahlsystem sei eines der sichersten der Welt, Raum für Wahlbetrug gebe es nicht. Sie hatte auch keinen Grund zu Sorge, gewann sie doch Wahl um Wahl. Doch jetzt, wo sie die 16-Millionen-Metropole Istanbul, das wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Zentrum des Landes verloren hat, meint sie plötzlich Wahlbetrug zu erkennen. Das ist höchst problematisch. Jahrelang konnte sich die AKP trotz ihres immer autoritäreren Kurses demokratisch legitimieren, weil sie von der Mehrheit der Türken gewählt wurde. Bis gestern. Sogar der regierungsnahe Kolumnist Abdülkadir Selvi erklärt heute in der Zeitung Hürriyet: „Mit der Entscheidung des Hohen Wahlrates treten wir in eine neue politische Klimazone ein.“
Heiko Maas: Entscheidung weder transparent noch nachvollziebar
Auch in Deutschland beobachtet man die Entscheidung mit Sorge. Außenminister Heiko Maas erklärte, sie sei für ihn weder transparent noch nachvollziehbar: „Über die Besetzung des Oberbürgermeisteramtes in Istanbul kann und darf allein der Wille der türkischen Wählerinnen und Wähler entscheiden. Die Einhaltung demokratischer Grundprinzipien mit transparenten Wahlbedingungen hat aus unserer Sicht oberste Priorität.“
Das bedeutet aber noch lange nicht, dass die AKP die Neuwahlen, die für den 23. Juni angesetzt sind, auch gewinnen wird. Denn sie hat es dann mit einem immer stärker werdenden Gegner zu tun: Ekrem Imamoğlu. Vor einigen Monaten kannte fast niemand in der Türkei seinen Namen, er war ein beliebter Bezirksbürgermeister in dem Istanbuler Stadtteil Beylikdüzü. Heute kennt ihn fast jeder in Istanbul, wenn nicht gar im ganzen Land. Er steigerte seine Beliebtheit enorm, indem er nach der Wahl am 31. März ständig vor die Kameras trat und die Anerkennung seines Wahlsieges forderte. Er zeigte sich äußerst kämpferisch, verzichtete dabei aber auf eine aggressive Rhetorik, wie Erdoğan und seine Gefolgsleute sie pflegen. Er setze mehr auf gesellschaftliche Versöhnung, wonach sich viele Wähler in der politisch zutiefst gespaltenen Türkei sehnen. Die Opposition hatte plötzlich die charismatische Führungsfigur, die ihnen seit Jahren fehlte.
Istanbuls OB Imamoğlu nun landesweit populär
Selbst Imamoğlus Partei CHP galt bis noch vor den Wahlen als starr, überaltert und durch ihr Erbe als Partei des Republikgründers Atatürk wenig modern. Doch Imamoğlu, 48 Jahre alt und dynamisch, ist vor allen bei jungen Wählern beliebt. Er nutzt Twitter und andere soziale Medien geschickt, überträgt jeden seiner Schritte live im Netz, den überwiegend regierungstreuen Massenmedien zum Trotz.
Nach Bekanntgabe der Entscheidung trat er gestern Abend vor tausende seiner Anhänger in Istanbul und gab sich optimistisch, die Neuwahlen zu gewinnen. Nun sei die Zeit zum Reden gekommen, auch für Geschäftsleute und Künstler, die bisher geschwiegen hätten. „Es wird alles gut werden“, versprach er. Seither sind diese Worte Twitter-Hashtag Nummer eins im Land. Viele Prominente des Landes, darunter Regisseure, Schauspieler und Musiker, retweeteten diese Worte, bekannten sich offen zu Imamoğlu.
Wirtschaftsverband kritisiert Neuwahlen
Der türkische Industrie- und Wirtschaftsverband Tüsiad twitterte schon in der Nacht, zu Zeiten in denen man sich auf umfangreiche wirtschaftliche und demokratische Reformen konzentrieren müsse, sei „die Rückkehr in eine Wahlatmosphäre besorgniserregend“. Die türkische Wirtschaft geht derzeit durch eine schwere Krise, Inflation und Arbeitslosigkeit sind hoch, gegenüber Dollar und Euro verlor die türkische Lira nach Bekanntgabe der Neuwahl-Entscheidung erneut an Wert. Dabei hatte insbesondere diese Krise, unter der vor allem Erdoğans Kernwähler aus den unteren Schichten leiden, der AKP viele Stimmen gekostet.
Präsident Erdoğan wetterte prompt gegen den Wirtschaftsverband, riet ihnen, ihre Grenzen zu kennen. Das war zu erwarten. Drohungen waren in den letzten Monaten Erdoğans beliebtestes Wahlkampfmittel. Ob ihn das zum Sieg führt, ist fraglich. Jahrelang profitierte er davon, dass er sich als Underdog präsentierte, als das Opfer. Die Opferrolle hat jetzt Ekrem Imamoğlu übernommen. „Das türkische Volk steht immer hinter den Benachteiligten“, betonen in diesen Tagen auch eigentlich regierungsnahe Analysten.
Kurden entscheiden in Stichwahl
Das Zünglein an der Waage werden erneut die Kurden sein. Die kurdennahe Partei HDP hatten am 31. März in Istanbul keinen Kandidaten aufgestellt und ihre Wähler indirekt aufgefordert, für das Wahlbündnis der CHP zu stimmen. Gestern, kurz vor Bekanntgabe des Wahlergebnisses, wurde bekannt, dass dem inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan zum ersten Mal seit acht Jahren erlaubt wurde, Besuch von seinen Anwälten zu bekommen. Denen übermittelte er die Nachricht, dass man in der Türkei dringend zum Friedensprozess mit der PKK zurückkehren solle.
Das Treffen kann man als Zugeständnis an die Kurden werten, doch ob das reicht, damit diese am 23. Juni in Istanbul Erdoğans AKP die Stimme geben, ist höchst fraglich. Heute erklärte die HDP-Parteiführung, dass man nur geschlossen gegen die autoritäre Erdoğan-Regierung vorgehen könne. Allerdings appellierte sie an alle Parteien, auch das von der HDP erlittene Unrecht nicht zu vergessen. Denn in mehreren Städten in der Kurdenregion durften Wahlsieger der HDP nach dem 31. März ihre Ämter nicht antreten. Stattdessen wurden AKP-Bürgermeister eingesetzt. Während alle Augen auf Istanbul gerichtet waren, wurde die staatliche Willkür in den Kurdengebieten, wie so oft in der türkischen Geschichte, weitestgehend ignoriert.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.