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Warum Österreichs ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz der Absturz droht

Vor zwei Jahren wurde Sebastian Kurz als konservativer Shooting-Star gefeiert. Jetzt drohen ihn die Trümmer seiner Skandalregierung mit der FPÖ zu begraben. Seine Machtgier könnte ihm zum Verhängnis werden. Denn nun wird klar: Kurz ging es immer nur um die eigene Macht – koste es, was es wolle.
von Robert Misik · 20. Mai 2019
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Freitag, 18 Uhr, zündeten "Der Spiegel" und die "Süddeutsche Zeitung" die politische Bombe, veröffentlichten das Skandalvideo, das den bisherigen FPÖ-Anführer und Vizekanzler zeigt, wie er sich mit einer vorgeblichen russischen Oligarchennichte darüber unterhält, ihr das halbe Land vom Autobahnbau bis zum Trinkwasser zuzuschanzen, wenn sie die "Kronen-Zeitung" übernimmt und ihn zur Nummer eins macht. Viel Alkohol und FPÖ-Fraktionschef Johann Gudenus waren auch dabei.

Regierung Kurz vor dem Totalkollaps

Innerhalb von nicht einmal 50 Stunden erlebt die Regierung, aber das politische System im weiteren Sinne, eine Kernschmelze. Zunächst der unkontrollierte Zusammenbruch der Regierung: Binnen 26 Stunden treten Vizekanzler und FPÖ-Fraktionschef zurück, dann erklärt Kanzler Sebastian Kurz das Regierungsende und Neuwahlen im Herbst. Und dann geht es nur mehr darum, wie man am elegantesten die verbleibenden rechtsextremen Minister aus der Regierung entfernt, und die extremistischen Ultras, die sie in Kabinette und Büros gehievt haben, gleich dazu. Aus der bisher so ostentativen Harmonie der Rechts-Ultrarechts-Koalitionäre wird innerhalb weniger Stunden einer Grabenkrieg und eine Schlammschlacht, die in blanken Hass übergeht. Einen solchen Untergang und Totalkollaps hat noch selten eine Regierung erlebt.

Die Niedertracht und Staatswohlvergessenheit, die diese Regierung während ihrer Amtszeit auszeichnete, setzt sich freilich auch in ihrem Abgang fort. Während das Land in eine veritable Staatskrise trudelt, zünden die gescheiterten Koalitionäre auch noch das Land an, vergiften weiter das Klima, taktieren nur mehr.

Kurz agiert als populistischer Wahlkämpfer

Sebastian Kurz Erklärung zum Ende der Koalition war zugleich der Auftakt zu seinem Wahlkampf, in dem sich wie immer alles um ihn drehen soll: Er habe es mit der FPÖ versucht, er habe alles geschluckt, aber jetzt gehe es nicht mehr. Statt in dieser Krise das Land zu stabilisieren und die demokratischen Kräfte zu einen, beginnt er gleich, die Opposition anzupatzen und erklärt in jedem Interview, dass das Video die Handschrift von "Tal Silberstein" trage, jenes israelischen Spin-Doctors, der im Wahlkampf 2017 zeitweise für die SPÖ arbeitete. Die Botschaft ist klar: die SPÖ hat auch Dreck am Stecken, und der Jude ist schuld, ist ja der Name "Silberstein" längst zum inflationär gebrauchten antisemitischen Code geworden.

Es geht Kurz nur mehr um seinen kleinen, wahltaktischen Vorteil. Märtyrer, Heilsbringer, Opfer, ich, ich, ich, der Retter aus der Krise, die er selbst verursacht hat. Es ist die Rhetorik einen Narzissten. Hier sprach kein Staatsmann in der Krise, sondern ein populistischer Wahlkämpfer, der nicht mal die miesesten Mittel scheut.

FPÖ stilisiert sich als Opfer

Die rechtsextremen Freiheitlichen spielen auf dieser Klaviatur mit, nur, wie üblich, noch einmal schriller. Nach knappen, pflichtschuldigen Entschuldigungen für die Entgleisungen ihres Vormannes, katapultiert sich die FPÖ flugs in die Opferrolle: Opfer von dunklen Mächten, die ihr eine Videofalle gestellt haben, Opfer einer internationalen ("Silberstein") Verschwörung, Opfer von Sebastian Kurz. Nur der Name Soros ist noch nicht gefallen, aber das ist auch nur mehr eine Frage der Zeit.

"Keine der beiden Regierungsparteien hat irgend etwas gelernt", formuliert der Publizist und Bezirksrichter Oliver Scheiber: "Kein Wort des Bedauerns über die Polarisierung der Gesellschaft, über Beschädigung und Schwächung der Institutionen, den xenophoben Dauerton, die überhebliche Machtausübung."

Ein politischer Tsunami

Klar ist natürlich, dass alle Beteiligten versuchen, einen totalen Kontrollverlust zu vermeiden, und zwar nicht nur in Hinblick auf die Nationalratswahlen, die voraussichtlich im September stattfinden werden - sondern auch in Hinblick auf die Europawahlen am kommenden Sonntag. Die FPÖ hofft, mit der Opfermasche ihre Kernklientel doch noch zu mobilisieren und so ein Totaldebakel zu vermeiden. Es ist durchaus denkbar, dass sich das desaströse Ende dieser Regierung bei diesen Wahlen noch gar nicht besonders auswirkt.

Ganz anders kann das aber dann bei den Nationalratswahlen sein. Österreich erlebt gerade einen politischen Tsunami, dessen Welle viele unter sich begraben kann. Die FPÖ als ganzes, die sich noch auf viele Enthüllungen einstellen muss und der jetzt auch die juristische Aufarbeitung des Skandals und ihrer Regierungsarbeit droht.

Kurz hat FPÖ an die Macht gebracht

Im Augenblick ist Sebastian Kurz in einer scheinbar komfortablen Situation, aber auch das kann sich sehr schnell ändern. Er wird jetzt in einen Schlammschlachtstrudel mit seinen ehemaligen Koalitionären hinein gezogen, agiert als Machttaktiker, der nur zu seinem Vorteil handelt und vor allem: Die Oligarchisierung des Landes, die in dem Video wie in einer Kabarettversion abgebildet ist, hat er ja mit der FPÖ gemeinsam 17 Monate lang durchgezogen. Aufteilung der Macht, Zuschanzen von Einflussbereiche an mächtige Schattenmänner, Diskreditierung der Opposition und der Zivilgesellschaft, Angriffe auf freie Medien und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Sebastian Kurz, der sich so geschickt als Figur der Erneuerung inszeniert hat, steht jetzt plötzlich als einer da, der die alte Politik repräsentiert, das System ruchlosen Machtpokers und undurchsichtiger Machenschaften. Und als jemand, der innerhalb von 24 Monaten zwei Regierungskrisen und zwei vorgezogene Neuwahlen provoziert und zu verantworten hat. Es ist ein Seiltanz, den Kurz jetzt vollbringen muss - und so sicher ist nicht, dass er dabei nicht abstürzt. Immerhin hat er diese Spießgesellen in die Regierungsämter gehievt, ihnen sogar das Innenministerium ausgeliefert.

Chancen für die SPÖ

Für die Sozialdemokratie bietet das Chancen. Gewiss, sie ist von den Vorkommnissen ein wenig auf dem falschen Fuß erwischt worden. Nach Regierungsverlust und turbulenten Vorsitzendenwechsel ist die SPÖ noch lange nicht konsolidiert, Frontfrau Pamela Rendi-Wagner, die die Partei um die Jahreswende übernahm, erscheint in den Augen der meisten Wähler im Augenblick noch nicht als die logische Kanzlerin, die wie selbstverständlich Kurz gefährlich werden kann. Ihre Stärke ist ihre frische, gewinnende, sympathische Art, aber in den vergangenen Monaten hatte sie etwas verunsichert und oft auch verkrampft gewirkt.

Aber gerade als Person, die ganz anders ist und die von außen kommt, als die "normale" Person, die das Herz am rechten Fleck hat, die sauber ist und bisher nicht in Berührung kam mit diesem Abgrund an Niedertracht, in dem die Kurz-Strache-Regierung jetzt versinkt, hat sie alle Chancen, in den nächsten Monaten sukzessive zuzulegen. Es ist nicht ausgemacht, dass das gelingt - aber eben auch nicht ausgeschlossen. Denn die vier Monate bis zur Nationalratswahl sind lang und die Kernschmelze des Systems Kurz geht weiter - wohl auch inklusive einer Schlammschlacht, die sich die ehemaligen Koalitionäre jetzt bis zum Wahltag liefern werden.

Kurz am Ende ohne Partner?

Am Ende kann es so aussehen, dass Sozialdemokraten, Grüne und rechtsliberale Neos zumindest gleich stark werden wie die bisherigen Koalitionäre. Aber selbst wenn Sebastian Kurz es doch schafft, stark zuzulegen, kann er am Ende ohne Partner dastehen. Die Brücken zur FPÖ hat er verbrannt, die Gesprächskultur mit der bisherigen Opposition durch seine Perfidie und sein Dirty Campaigning vergiftet. Wer immer sein nächster Partner wird, er wird diesem ausgeliefert sein. Nüchtern betrachtet ist es gar nicht so unwahrscheinlich, dass die Volkspartei, um an der Macht zu bleiben, am Ende ihren Vormann in die Wüste schicken muss. Dann hat er es innerhalb von nur zwei Jahren geschafft, vom gefeierten Shooting-Star des europäischen Konservativismus zum Gescheiterten zu werden, dem seine Machtgier zum Verhängnis geworden ist.

Autor*in
Robert Misik
ist Journalist und politischer Autor. Er lebt in Wien.
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