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Warum Jeremy Corbyn trotz seiner Fehler der richtige Vorsitzende für Labour ist

Jeremy Corbyn hat sich in der Urwahl durchgesetzt und bleibt Vorsitzender der britischen Labour-Party. Das ist gut so, denn das sozial tief gespaltene England braucht einen wie ihn. In manchen Punkten muss sich Corbyn allerdings dringend ändern.
von Nicholas Williams · 27. September 2016
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Seit Jahren tobt in Großbritannien ein Krieg gegen die Armen, und lange tat die Labour Party: nichts. Über eine Million Menschen ist inzwischen auf private Lebensmittelhilfe angewiesen, darunter viele Arbeitnehmer: Die Zahl derjenigen, die auf der Straße schlafen müssen, hat sich seit 2010 mehr als verdoppelt. Der alte Wunsch der privilegierten Oberklasse, die Armen für ihre Armut zu bestrafen, ist längst Wirklichkeit geworden. Junge Menschen zahlen über 30.000 Euro Studiengebühren für ein dreijähriges Studium, und viele verdienen hinterher zu wenig, um sich ein Auto kaufen zu können (geschweige denn eine Wohnung oder ein Haus).

Viele Briten erwarten nichts mehr von der Politik

In solchen Verhältnissen sollte eine Opposition doch eigentlich punkten können, oder? Leider nein, denn insbesondere der Norden Englands ist dermaßen vernachlässigt worden, dass das Gerede vom „Northern Powerhouse“ zynisch wirkt. Von Thatcher dafür bestraft, links gewesen zu sein und seiner industriellen Basis und Würde längst beraubt, wird selbst von der öffentlichen Hand dort am wenigsten investiert, wo es am meisten gebraucht wird. Laut der Unternehmensberatung KPMG werden im Nordosten pro Bewohner 314 Pfund in die Infrastruktur investiert – in London sind es 2604 Pfund. Auch die berufliche Bildung wurde stark vernachlässigt, Kapazitäten wurden – auch von New Labour – ab- statt aufgebaut.

Viele Menschen erwarten schlicht nichts mehr von der Politik. Sie sind auch kaum gebildet genug, um sie zu verstehen. In Familien, in denen Arbeitslosigkeit und hochprekäre Beschäftigung nun in die dritte Generation gehen, war der Brexit eine Möglichkeit, es Westminster endlich einmal so richtig zu zeigen. Tragischerweise schossen sich damit viele Wähler im Nordosten ins Knie; blind tappen sie in die schon von Thatcher aufgestellte Falle, den verlorenen Klassenstolz mit Nationalstolz zu ersetzen. Letztlich tat New Labour unter Tony Blair nichts anderes, als das angestaubte, konservative „Rule Britannia“ durch das viel moderner wirkende „Cool Britannia“ zu ersetzten.

Was Jeremy Corbyn will

Seit Jahrzehnten bekämpft Jeremy Corbyn diese Entwicklung. Seit 1983 kämpft er als Abgeordneter gegen Kürzungen, für das Gesundheitssystem und Bildung für alle. Dabei ist sein außenpolitischer Kurs mitunter abenteuerlich: Seine Auffassung des Nahostkonflikts ist eindimensional, und seine Verteidigungspolitik wirkt naiv. Die EU war ihm nie ein Herzensanliegen. Seine Anhänger sind indes typischerweise jung, viele von ihnen kosmopolitisch, weltgewandt, gut gebildet und unterbezahlt.

Trotzdem fremdeln viele mit Corbyns Haltung, nun den Brexit auch durchziehen zu wollen. Der Verdacht, dass Corbyn der Brexit gar nicht so unrecht ist, lässt sich nicht ganz von der Hand weisen. Die Tatsache, dass er bei seiner Wiederwahl bei allen Gruppen außer den besonders proeuropäischen 18- bis 24-Jährigen gewann, sollte ihm zu denken geben. Nichtsdestotrotz könnte und sollte gerade die Europapolitik eine Brücke sein, die es Labour ermöglichen würde, sowohl Profil zurückzugewinnen (ein konsequent proeuropäischer Kurs gegen die Regierung) als auch innerparteiliche Gräben zu überwinden. Ganz so schlecht wie behauptet ist die Brexit-Abstimmung unter Labouranhängern auch nicht verlaufen. Prozentual stimmten knapp mehr Labouranhänger für den EU-Verbleib als es Anhänger der bedingungslos proeuopäischen Liberaldemokraten taten. Nur im Nordosten sah die Sache anders aus, aus den oben genannten Gründen.

Labour kann den Weg aus der Sackgasse weisen

Chancen, eine Wahl zu gewinnen, hat Corbyn allemal. Jenseits der tagesaktuellen Umfragen zeigt sich, dass viele derjenigen, die den Konservativen ihren derzeitigen 14-Prozent-Vorsprung geben, sich nicht wegen Corbyn, sondern wegen der parteiinternen Querelen (vorläufig) von Labour abgewendet haben. Abgesehen davon, ist es, frei nach Walter Scheel, nicht Aufgabe der Politik, sich stets nach der Mehrheit zu richten, sondern in manchen Fällen, die Mehrheit für sich zu gewinnen. Auch sollte nicht ignoriert werden, dass unter Corbyn Labour zur größten Partei Westeuropas geworden ist – allein seit Corbyns erster Wahl zum Vorsitzenden traten mehr Menschen ein, als die Konservativen insgesamt Mitglieder haben.

Wer, zumal als Linker, ein paar Worte mit einem alten Trinker in einem nordenglischen Pub wechselt, wer die Filme sieht, in denen Ken Loach die Armut in Großbritannien dokumentiert, die Entwürdigung und die Abscheu, mit der Arme behandelt werden, dem können, ja müssen Tränen des Zorns kommen. Corbyn täte sicher gut daran, seine Arbeit zu professionalisieren, breitere Schichten anzusprechen, seine Außenpolitik einer gründlichen Überprüfung zu unterziehen. Aber sein Kampf gegen diese Zustände, der ist richtig.

Der Corbyn in der Abstimmung über den Parteivorsitz unterlegene Owen Smith wäre bei erstbester Gelegenheit eingeknickt. Seinen Namen sucht man auf der Liste der Abgeordneten, die in der letzten Austeritätsabstimmung vor Corbyns erster Wahl zum Parteivorsitzenden gegen die Maßnahmen und damit gegen die Parteilinie stimmten, vergeblich. So lange es solche Funktionäre gibt, brauchen wir Corbyn.

Autor*in
Nicholas Williams

ist Mitglied der Labour-Party sowie der SPD und aktiv im Ortsverein Ludwigsburg (Baden-Württemberg).

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