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Warum Europa Lösungen für seine Grenzen und Flüchtlinge braucht

Der Vertrag von Schengen ermöglicht das kontrollfreie Reisen zwischen 26 europäischen Staaten. Doch nach Schweden hat auch Dänemark wieder Passkontrollen eingeführt. Die EU-Kommission versucht nun in der Debatte um Schengen zwischen Schweden, Dänemark und Deutschland zu vermitteln.
von Peter Riesbeck · 6. Januar 2016
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Ein bisschen Nachhilfe in Latein gab es obendrein. „Prima facie verläuft die Anordnung innerhalb der Regeln“, sagte eine Sprecherin der EU-Kommission und ihr Kollege ergänzte: „Für alle, die kein Latein beherrschen: Das bedeutet, auf den ersten Blick.“ Auf den ersten Blick also darf Dänemark – vorerst befristet auf zehn Tage – seine Grenze zu Deutschland wieder kontrollieren. Auf den ersten Blick reagiert Dänemark damit auf Schweden, das Land hatte zu Wochenbeginn seine Grenzen abgeriegelt. Nun versucht EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos zu vermitteln. Für Mittwoch bat er die dänische Migrationsministerin Inger Støjberg und ihrem schwedischen Kollegen Morgan Johannson sowie den Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Ole Schröder, zum Gespräch nach Brüssel.

Wende der Willkommenspolitik in Schweden

„Das Ziel dieses Treffens ist es, die Koordinierung zwischen den betroffenen Ländern zu verbessern, um eine bessere Bewältigung des Migrationsdrucks sicherzustellen“, hieß es aus der EU-Kommission vorab.
Was waren das noch für Zeiten. Im vergangenen Juni hatte Europa den 30. Jahrestag des Vertrags von Schengen gefeiert, der das kontrollfreie Reisen zwischen 26 europäischen Staaten ermöglicht. Von einer beispiellosen Erfolgsgeschichte hatte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker damals gesprochen. Ein halbes Jahr später musste er im Europäischen Parlament eingestehen: „Eine gemeinsame Währung macht keinen Sinn, sollte Schengen fallen.“

Der Einsatz ist also hoch. Auch deshalb macht die EU-Kommission Druck. Sie will nicht wieder warten wie im vergangenen Spätsommer, als Brüssel im Sommurlaub verweilte, während sich auf dem Balkan die Flüchtlinge auf den Weg machten. Wie sehr sich die Lage in der Flüchtlingspolitik seither geändert hat, zeigt allein ein Blick nach Schweden. Die Regierung des Sozialdemokraten Stefan Löfven hatte eine offene Willkommenspolitik betrieben, rund 160.000 Flüchtlinge hat Schweden im vergangenen Jahr aufgenommen. Löfven hatte aber auch eine Wende angekündigt, schon Ende des vergangenen Jahres bat er die EU-Kommission bei künftigen Verteilungen aus besonders beanspruchten EU-Staaten auch Flüchtlinge in seinem Land zu berücksichtigen. Ein mutiger Schritt.

Kontrolle trifft auch die Wirtschaft

Im Nachbarland Dänemark versucht der liberalkonservative Regierungschef Lars Lökke Rasmussen noch kernig zu klingen. Die schwedischen Kontrollen könnten entscheidende Konsequenzen für Dänemark haben, sagte Rasmussen. „Es kann zu mehr Asylanträgen führen.“ Mit sporadischen Kontrollen an der Grenze zu Deutschland versucht er nun Stärke zu demonstrieren. Doch ist Dänemark in einer Position der Schwäche. Sein Land ist eingeklemmt. Dazu reicht nicht allein ein Blick auf Pendler, die zwischen dem dänischen Kopenhagen und dem schwedischen Malmö nun länger unterwegs sind, sondern auch ein Blick auf die dänisch-schwedische Fährverbindung zwischen Helsingör und Helsingborg. Flotte fünfzehn Minuten dauert eine Überfahrt. Weil aber die schwedische Regelung Transportfirmen wie Fährgesellschaften und Bahnunternehmen haftbar macht, wenn sie Flüchtlinge illegal ins Land befördern, muss strikt kontrolliert werden.

Die Kontrollpolitik trifft nicht nur das freie Reisen, sondern auch den freien Warenverkehr. Das Zeitalter der Just-In-Time-Produktion, in der Güter direkt von der Straße ans Fließband wandern, duldet keine Unpässlichkeiten an Grenzübergängen. Die Regierungen mögen auf ihrer Souveränität beharren, für nationale Lösungen aber ist Europa im postsouveränen Zeitalter längst zu sehr miteinander verwoben. Das gilt für die Flüchtlingspolitik. Und das gilt für Schengen.

Flüchtlingkrise schenkt keine Zeit

1985 haben fünf Staaten (Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Belgien und Luxemburg) im luxemburgischen Grenzörtchen Schengen den Vertrag über das passkontrollfreie Reisen besiegelt. Heute gehören dem Pakt 22 EU-Staaten und vier weitere europäische Länder (Island, Norwegen, Liechtenstein und die Schweiz) an. Ausnahmen von Grenzkontrollen sind möglich, wenn öffentliche Ordnung oder innere Sicherheit bedroht sind, heißt es in dem Vertrag. Maximal können die Kontrollen auf zwei Jahre ausgedehnt werden. Aber selbst Dänemarks Regierungschef Rasmussen räumte ein, er sei über die Kontrollen an den Grenzen zu Deutschland „nicht glücklich“.

Seine Position der Stärke ist eigentlich ein Ausdruck von Schwäche. Rasmussen hofft auf die große Koalition in Berlin und deren politisches Gewicht in Brüssel. Nicht nur in der Flüchtlingspolitik, auch in der Reform der EU-Grenzschutzbehörde Frontex. Geht es nach dem Willen der EU-Kommission soll diese künftig auch ohne die Billigung einer Regierung an den Grenzen eines EU-Landes aktiv werden können. Länder wie Polen, Ungarn und Griechenland sind skeptisch. Optimisten hoffen auf eine Einigung bis zum Juli dieses Jahres.

Europäische Entscheidungen brauchen Zeit. Aber Europas Problem ist: Die Flüchtlingskrise schenkt keine Zeit. Europa braucht Lösungen. Für seine Grenzen. Und für seine Flüchtlinge. Europa ist längst ein verschränkter Raum. Es gibt erste Anzeichen, dass Europa das verstanden hat. Schweden hat die Grenzkontrollen nicht hektisch angeordnet, sondern lange zuvor angekündigt. Die Grenzen sind vorübergehend geschlossen, aber es gibt ein wenig Bewegung. Die Phase der hektischen Lösungen ist vorbei.

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Peter Riesbeck

ist Europa-Korrespondent. Bereits seit 2012 berichtet er aus Brüssel für die „Berliner Zeitung“ und die „Frankfurter Rundschau“.

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