Warum Europa eine neue Ostpolitik braucht
Die Tendenz zu rhetorischer und militärischer Aufrüstung hat sich gerade in letzter Zeit in beunruhigender Weise beschleunigt. Die zur „Abschreckung“ Russlands unternommenen Stationierungen von Streitkräften und Rüstungen im östlichen Europa und bereits avisierte „Gegenmaßnahmen“ durch Russland lassen weiteres Wettrüsten befürchten. Europa schlingert in Richtung einen neuen Kalten Krieges, als seien die Lehren der Geschichte vergessen: Frieden erwächst nur aus konstruktiver Zusammenarbeit.
Ohne Verträge zerbricht die europäische Friedensordnung
Ausgerechnet das hierfür so bedeutsame Verhältnis des Westens zu Russland ist zerrüttet, in einer Zeit, in der sicherheitspolitisches Miteinander mehr denn je erforderlich ist: Der Flächenbrand im Nahen Osten, die drohende Verbreitung von Atomwaffen, der transnationale Terrorismus sind nur drei Gründe für engere Abstimmung. Diese funktionierte bisher auf der Basis von Verträgen, die der Stabilität der europäischen Friedensordnung dienten. Es sind jene Vereinbarungen, die jetzt in den Strudel der Spannungen geraten. Gehen sie verloren – vom Vertrag über das Verbot nuklearer Mittelstreckenraketen bis hin zum Vertrag zur Beschränkung konventioneller Rüstungen und Streitkräfte in Europa – so zerbrechen die Pfeiler der europäischen Friedensordnung.
Bevor irreversible Fakten geschaffen werden, muss alles unternommen werden, die Spirale von Aufrüstung und Abschreckungsrhetorik zu beenden. Stationierungen von Truppen und Waffen in Grenznähe sind ein Irrweg. Sie fördern Misstrauen und verbessern die Sicherheit in keiner Weise. Mit ihnen droht vielmehr weitere Eskalation.
Jetzt auf Willy Brandt und Egon Bahr zurückbesinnen!
Wir halten angesichts der Gefahren für den Frieden folgende Schritte für erforderlich:
- Der NATO-Russland-Rat und die Grundakte zur Zusammenarbeit sind zu stärken. Der Rat wurde auch als Institution für vorausschauendes Krisenmanagement geschaffen. Seine Suspendierung durch die NATO war ein Fehler, denn dieses Forum kann Misstrauen abbauen und Kooperation fördern. Vertrauen ist geboten, um Fehlwahrnehmungen oder einen Krieg aus Versehen zu verhindern. Ein gemeinsames Frühwarnzentrum mit Russland und die Festlegung geringerer Obergrenzen bei künftigen Manövern und Truppenverlegungen könnten dazu beitragen.
- Verhandlungen über den vollständigen Abzug taktischer Atomwaffen müssen endlich beginnen. Diese Waffen stellen eine überlebensbedrohende Gefahr für alle Menschen dar, die sich in ihrem Wirkungsbereich befinden. Auch in Deutschland werden solche Waffen gelagert. Russland sucht, seine konventionelle Unterlegenheit gegenüber der NATO mithilfe von geschätzten 2.000 gelagerten taktischen Atomwaffen auszugleichen. Es liegt aber im Interesse aller, Risiken atomarer Vernichtung in Europa auszuschließen. Die NATO könnte als ersten Schritt erklären, dass sie keine Absicht hat, Atomwaffen in Osteuropa zu stationieren.
- Das US-Programm zur Stationierung einer Raketenabwehr in Europa muss gestoppt und mit Russland neu verhandelt werden. Das unter maßgeblicher Mitbeteiligung Russlands verhandelte Abkommen mit dem Iran zur Suspendierung von dessen Atomprogramm bietet hierfür genügenden Anlass. Gleichzeitig sollten bestehende Rüstungskontrollabkommen erhalten und neue Vereinbarungen angestrebt werden.
- Die Sanktionen sind schrittweise aufzuheben. Sie haben keinerlei positiven Wandel bewirkt. Sie treffen vor allem die exportorientierte Wirtschaft der EU und Russland. In Verbindung mit wirtschaftlichem Niedergang in Russland spielen sie nationalistischer Rhetorik nur in die Hände.
- Die OSZE muss gestärkt werden. Deutschland führt 2016 deren Vorsitz. Ihre Rolle ist auszubauen, z.B. durch Vereinbarung neuer vertrauensbildender Maßnahmen, die Neubelebung konventioneller Rüstungskontrolle oder die Einsetzung von Beobachtungsmissionen in krisenbetroffenen Regionen, vom südlichen Kaukasus bis hin zur Türkei und deren kurdischen Gebieten.
Die Ost-West-Beziehungen befinden sich an einer Wegscheide. Wohlfeile Absichtserklärungen zur Stärkung des Friedens während des Warschauer NATO Gipfels Anfang Juli werden nichts nützen, wenn Europa gleichzeitig in ein neues Zeitalter wechselseitiger Abschreckung driftet. Es ist an der Zeit, sich der Lektionen Willy Brandts und Egon Bahrs zu besinnen: Frieden in Europa ist nur durch konstruktive Ostpolitik, und Sicherheit ist nur als gemeinsame Sicherheit zu erreichen.
Lesen Sie hier, „wie eine neue Ostpolitik der SPD aussehen sollte“.
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ist Theologe und Bürgerrechtler sowie Vorsitzender des Willy-Brandt-Kreises.