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Warum Europa die Türkei nicht abschreiben darf

Die Forderung des EU-Parlamentes nach einem Einfrieren der Beitrittsgespräche mit der Türkei ist falsch. Sie setzt das Erdogan-Regime mit der ganzen Türkei gleich. Doch was ist mit den 50,5 Prozent, die Erdogans Partei nicht gewählt haben? Sie zahlen den Preis bei einem Abbruch der Gespräche.
von Seckin Söylemez · 7. Dezember 2016
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Mit großer Mehrheit hat das Europäische Parlament Ende November die Aussetzung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gefordert. Initiiert wurde dieser Antrag durch die Sozialdemokraten in der EU. Die Folgen sind zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht absehbar, doch klar ist, dass die europäisch-türkischen Beziehungen ihren vorläufigen Tiefpunkt erreicht haben. Aber auch verdeutlich diese Entscheidung ein weitaus größeres Problem: Die Wahrnehmung der Türkei aus europäischer Perspektive.  

Erdogan ist nicht die Türkei

Die EU skizziert mit dieser Entscheidung ein Zerrbild der Türkei, in welchem Erdogan gleichgesetzt wird mit Staat und Bevölkerung. Diese Betrachtung dürfte den meisten Anhängern des Staatspräsidenten und möglicherweise auch ihm selbst mehr als nur schmeicheln, denn schließlich war es stets das Bestreben der AKP diese Wahrnehmung innerhalb der türkischen Gesellschaft zu etablieren. Immer wieder verdeutlichte Erdogan und ranghohe Politiker, dass sie – im Gegensatz zu den alten politischen Eliten des Landes – aus dem „Volk“ kamen und man in der Türkei nun von einer wirklichen „Volksherrschaft“ sprechen könne.

Dieser hegemoniale Diskurs der AKP wurde in den vergangenen 14 Jahren immer wieder propagiert und erlebte seinen Höhepunkt am Abend des Putschversuchs vom 15. Juni. Dort war es Erdogan höchstpersönlich, der per Videoanruf beim TV-Sender CNNTürk „sein“ Volk dazu aufrief Widerstand gegen die Putschisten zu leisten. Die innenpolitischen Entwicklungen seit diesem Tag dürften uns allen bekannt sein.

Was hierzulande hingegen weniger bekannt ist, sind die diskursiven Entwicklungen in der Türkei seit dem Putschversuch. Spätestens seit den Gezi-Protesten des Jahres 2013 änderte sich der Sprachgebrauch Erdogans in Bezug auf den Westen drastisch. Der damalige Ministerpräsident wiederholte mehrmals bei öffentlichen Ansprachen, dass es sich bei den Finanziers der Demonstranten um ausländische Kräfte handele und verwies indirekt auf Europa.

Die AKP startete 2002 proeuropäisch

Interessant ist, dass zu Beginn der Ära Erdogan die Beziehungen zur EU unter einem ganz anderen Licht standen. Als die AKP 2002 als Regierungspartei antrat, war sie darum bemüht, die damals eingefrorenen Beziehungen zur EU wieder aufleben zu lassen. Noch im selben Jahr wurde ein Paket von Gesetzesänderungen vorgelegt, welche im damaligen Kontext einem Paradigmenwechsel in der Innenpolitik des Landes gleichkamen.

Das Paket beinhaltete Reformen im Bereich des Strafgesetzes: die Abschaffung der Todesstrafe auch in Kriegszeiten, das Ende der Straffreiheit für Polizisten, eine Ausweitung der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheiten und zahlreiche Reformen in Bezug auf die kurdische Bevölkerungsgruppe, freier Gebrauch der kurdischen Sprache, Kurdischunterricht an staatlichen Schulen und die Eröffnung kurdisch-sprachiger Hörfunk- und Fernsehkanäle. Ab dem Jahr 2005 folgte daraufhin die offizielle Aufnahme von Beitrittsgesprächen trotz des Wiederstandes einzelner Mitgliedsstaaten wie z.B. Österreich, aber auch von Bundeskanzlerin Angela Merkel.

2010 sprach sich Bundeskanzlerin Merkel gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei aus und schlug eine privilegierte Partnerschaft vor. Sechs Jahre später – so intendiert es Erdogan – habe sich der Spieß gedreht. Durch den Flüchtlingsdeal bräuchte die EU die Türkei dringender denn je: Nun seien es die Europäer, die an der Tür stehen würden. Und ähnlich verhält es sich auch mit dem Gesamtdiskurs in Bezug auf die EU. Ankara – so scheint es – hat bereits vor geraumer Zeit mit einem möglichen EU-Beitritt abgeschlossen und dies wird heute offen durch ranghohe Politiker und den Staatspräsidenten artikuliert. Die EU als Verein christlicher Staaten, Beitrittsverhandlungen als Instrument die aufstrebende Türkei in Zaum zu halten und ähnliches sind die Slogans die heute in der Türkei an jeder Ecke rezipiert werden, so zumindest, wenn man den AKP-nahen Medien Glauben schenken kann.

Vergisst Europa die halbe Türkei?

Doch was ist mit den 50,5 Prozent der Bevölkerung, welche in den vergangenen Jahren nicht die AKP gewählt haben? Diese werden in der Türkei durch den Diskurs der AKP übertönt, aber auch in Europa – so scheint es – werden diese 50,5 Prozent Prozent nicht wahrgenommen. Bestes Beispiel hierfür ist das neueste Signal des EU-Parlaments gen Türkei. 479 Abgeordnete in dem 751-köpfigen Plenum haben für den Antrag gestimmt, welcher ein "vorläufiges Einfrieren" der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei bedeutet. „Wenn diese Situation so weitergeht, muss die EU die Beitrittsgespräche einfrieren. Das ist nicht unsere Schuld, die Ursache dafür ist das Verhalten von Staatspräsident Erdogan“, sagte der Mitinitiator des Antrags und Fraktionschef der Sozialdemokraten im Europaparlament Gianni Pittella wenige Tage vor der Abstimmung. Hierbei zeigt Pittella auf Erdogan, doch betroffen von dieser Maßnahme sind alle Türken.

Doch was würde eine wirkliche Beendigung der Beitrittsgespräche mit der Türkei im aktuellen politischen Kontext bedeuten? Zweifelsohne wäre es in erster Linie ein starkes Zeichen der EU gegenüber den politischen Entwicklungen in der Türkei. Eine klare Message, dass antidemokratische Maßnahmen seitens der Regierung nicht ohne Folgen bleiben würden.

Bruch mit Europa bedroht Reformen

Auf der anderen Seite hingegen wäre es auch ein Zeichen der Abwendung, in einer Zeit, in welcher sich die Türkei ohnehin schon in einem besonderen Maße von politischen Prozessen in Europa isoliert. In einer politischen Atmosphäre, in welcher die Wiedereinführung der Todesstrafe offen diskutiert wird, können durch einen endgültigen Bruch mit Europa auch bisherige Reformen im Sinne der Europäischen Union in Frage gestellt werden. Diskursiv gesehen ist die Verabschiedung des Antrags aber vor allem Wind auf die Mühlen der Argumentation der AKP-Regierung, welche sich nun an dieser Entscheidung populistisch ergötzen wird.

Was heute für den innertürkischen Diskurs wichtig ist, ist ein Zeichen, dass Europa und insbesondere die europäische Sozialdemokratie die Türkei und die demokratischen Kräfte im Land nicht abgeschrieben haben.

Lesen Sie hier einen Gastbeitrag des Europaabgeordneten Arne Lietz, warum ein Aussetzen der Beitrittsverhandlungen richtig ist.

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Seckin Söylemez

ist Politologe und in der AG Migration und Vielfalt der SPD Düsseldorf aktiv.

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