Warum Erdogans Feindbild Deutschland – zumindest derzeit – ausgesorgt hat
Die regierungstreue türkische Tageszeitung Sabah ist nach dem Staatsbesuch der Kanzlerin in Istanbul am 24. Januar voll des Lobes. Merkels Politik sei vernunftgesteuert und sie sei sich bewusst „das die Interessen Europas nur über die Zusammenarbeit mit der Türkei“ zu erreichen seien. Man könnte es auch umgekehrt sehen: Erdogan hat begriffen, dass die Interessen der Türkei nur über die Zusammenarbeit mit Deutschland zu erreichen sind. Auch weil Deutschland ab dem 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Das Feindbild Deutschland, mit dem Erdogan jahrelang Wahlkampf betrieb, hat – zumindest derzeit - ausgesorgt.
Warme Worte zwischen Merkel und Erdogan
So war es ein Treffen der ungewohnt sanften Worte. Erdogan nannte Merkel seine „geschätzte Freundin“, Merkel lobte die Türkei für ihr jahrelanges Engagement in der Flüchtlingskrise. Bei ihrem ersten Türkeibesuch seit 2017 eröffnete sie zusammen mit Erdogan einen neuen Campus der deutsch-türkischen Universität in Istanbul.
Kritische Worte fand Merkel dort nur indirekt, indem sie die Freiheit der Wissenschaft betonte. Anschließend traf sie sich mit Vertretern der türkischen Zivilgesellschaft, ein Treffen hinter verschlossenen Türen. Doch vor Pressevertretern vermied sie es deutlich anzuprangern, dass die Meinungsfreiheit in der Türkei in einem katastrophalen Zustand ist, hunderte Regierungskritiker hinter Gittern sitzen, darunter auch deutsche Staatsbürger und der Anwalt des deutschen Generalkonsulats in Ankara.
Libyen oben auf der Themenliste
Öffentlich diskutiert wurden dagegen außenpolitische Themen. Ganz oben auf der Liste stand das Thema Libyen. Hier lobte Erdogan diesmal die Bundesregierung für ihre Libyen-Konferenz in Berlin am 19. Januar. Dort verpflichteten sich die Teilnehmer, ein Waffenembargo von 2011 einzuhalten und Einmischungen zu unterlassen.
Dabei mischt Erdogan in Libyen kräftig mit: Er unterstützt das von der UN anerkannte Zentral-Regime von Premier al-Sarradsch, das allerdings nur circa zwanzig Prozent des Landes kontrolliert. Mit ihm unterzeichnete er Ende November ein Abkommen über Seegrenzen im östlichen Mittelmeer, das großen Unmut vor allem Griechenlands und Zyperns auf sich zog. Konkret geht es um Erdgasvorkommen, die dort vermutete werden und von denen auch die Türkei profitieren will. Ebenso locken sicher auch die Ölvorkommen im Libyen – bei dem Thema allerdings unterscheidet Erdogan sich kaum von den vielen anderen Akteuren, die in Libyen mitmischen.
Flüchtlingskrise bleibt Dauerbrenner
„Die Libyen-Konferenz hat Erdogan vor einem gefährlichen Militär-Abenteuer bewahrt“, urteilt der bekannte Kolumnist Mehmet Yilmaz auf dem Internetportal T24. Zugleich sei es ihm gelungen, mit am Verhandlungstisch zu sitzen – und als wichtiger Akteur zu gelten, der in eine Friedenslösung miteinbezogen werden muss.
Ähnlich sieht es in der Flüchtlingskrise aus, ein Dauerbrenner in den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei. Über vier Millionen Flüchtlinge beherbergt die Türkei, eine Mammutaufgabe, die das Land angesichts ihrer anhaltenden Wirtschaftskrise immer schwerer bewältigt. Erdogans Außenminister Cavosoglu stichelte einen Tag vor Merkels Besuch, von den zugesagten sechs Milliarden Euro der EU zur Bewältigung der Flüchtlingskrise sei die Hälfte noch gar nicht ausbezahlt worden. Die EU konterte prompt: Das Geld sei sehr wohl zugesagt, allerdings projektbezogen und fließe an Nichtregierungsorganisationen. Und nicht, wie man es in Ankara vielleicht gerne hätte, als direkter Zuschuss zu Haushalt.
Merkel bereit, Finanzspritze aufzustocken
Tatsache ist aber auch, dass selbst sechs Milliarden Euro nicht ausreichen, um so viele Menschen über viele Jahre zu beherbergen. Die meisten EU-Länder etwa würde auch mit einer solchen Finanzspritze nicht Millionen Menschen aufnehmen wollen. Merkel zeigte sich in Istanbul offen dafür, die Finanzhilfen weiter aufzustocken.
Zum ersten Mal erklärte sie auch, dass Deutschland unter der Federführung des Flüchtlingshilfswerkes UNHCR eventuell auch Projekte in der „Sicherheitszone“ in Nordsyrien unterstützen könnte. Die Türkei hat diese Zone seit ihrem kontroversen Militäreinsatz im Oktober unter ihrer Kontrolle und Ankara plant, dort Flüchtlinge anzusiedeln. Allein jetzt harren dort nach Aussage Erdogans 400.000 Menschen aus, weil sie vor den jüngsten Angriffen des Assad-Regimes in Idlib geflüchtet sind. Besonders in den Wintermonaten ist die Lage katastrophal. Wegschauen, dass weiß auch Merkel, darf man hier nicht. Allerdings ist fraglich, ob die Methoden Erdogans, der vor einem neo-osmanischen Reich in der Region träumt, der richtige Weg zur Lösung des Problems sind.
Türkische Wirtschaft hofft auf Deutschland
Der kleinste gemeinsame Nenner beider Seiten ist „dafür zu sorgen, dass die Türkei sich nicht von der EU löst“, bemerkt Journalist Murat Yetkin in seinem Blog Yetkin Report. Für die Türkei hat das auch wirtschaftliche Gründe. „Die Türkei hat die Hälfte ihres Außenhandels mit EU-Ländern und benötigt europäische Investoren, um das Wachstum ihrer zuletzt verlangsamten Wirtschaft wieder aufzunehmen“, so Yetkin.
Der türkische Wirtschaftsverband TÜSIAT erklärte vor Merkels Besuch, er hoffe auf eine Wiederaufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen und eine Aktualisierung des Zollunion-Abkommens. Konkrete Ergebnisse bei diesen Themen blieb das Treffen aber schuldig.
Schweres Erdbeben in der Türkei
Kaum saß Kanzlerin Merkel wieder im Flieger, wurde die Türkei von einer Katastrophe heimgesucht: Im Osten des Landes bebte die Erde mit einer Stärke von 6,8. Bisher wurden 39 Tote und über 1600 Verletzte geborgen. Merkel kondolierte Erdogan schriftlich und sagte ihm tatkräftige Unterstützung zu. Die beiden Politiker scheinen in einer Schicksalsgemeinschaft - in guten wie in schlechten Zeiten.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.