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Warum Erdogan die Nähe zu den Taliban sucht

Der türkische Präsident Erdogan verharmlost die Taliban und geht auf Schmusekurs mit den brutalen Islamisten – viele Türk*innen sind entsetzt. Ankara will in Afghanistan eine zentrale Rolle spielen. Doch das birgt viele Risiken.
von Kristina Karasu · 16. September 2021
Der türkische Präsident Erdogan – hier auf einer Flagge in Ankara – sieht „in Glaubensfragen keine Probleme mit den Taliban“.
Der türkische Präsident Erdogan – hier auf einer Flagge in Ankara – sieht „in Glaubensfragen keine Probleme mit den Taliban“.

Erdogan hatte es eilig. Schon bevor die Taliban Kabul eroberten, erklärte der türkische Staatspräsident Ende Juli: „Die Türkei hat in Glaubensfragen keine Probleme mit den Taliban.“ Daher könne sein Land leichter mit den Taliban reden. Im Gegenzug betonen Taliban-Sprecher, die Türkei seien ihre „muslimischen Brüder“, man wolle gut mit ihnen zusammenarbeiten.

Türkische Geheimdienstmitarbeiter*innen und Diplomat*innen führten schon Ende August Verhandlungen mit den Taliban. Dabei ging es vor allem um die Frage, ob die Türkei den Flughafen von Kabul betreiben wird. Die Türkei als muslimisches NATO-Land könnte in Zukunft eine Schlüsselrolle in Afghanistan spielen. Das Machtvakuum, dass die USA und deren Verbündete hinterlassen haben, scheint Erdogan nur zu gerne ausfüllen wollen.

Türkische Islamisten: Taliban sind keine Terroristen

Passend dazu versuchen türkische Propaganda-Medien seit Wochen, die Taliban als moderate Islamisten darzustellen. So schrieb der Regierungsberater, Politikwissenschaftler und EX-AKP-Abgeordnete Yasin Aktay in der islamisch-konservativen Tageszeitung Yeni Safak, die Taliban seien keine Terroristen, sondern legitime Freiheitskämpfer. Ihr Image als brutale Extremisten beruhe nur auf einem Propagandafeldzug der westlichen Medien. Im Gegenzug zeigten türkische regierungsnahe Medien, wie Taliban-Kämpfer Eis essen und sich auf der Kirmes vergnügen. Erdogan erklärt verharmlosend, beim Thema Frauenrechte seien die Taliban längst nicht mehr so wie vor 20 Jahren – und könnten sich in Zukunft ja ein Beispiel an der Türkei nehmen.

In großen Teilen der türkischen Bevölkerung löste Erdogans Schmusekurs mit den Extremisten allerdings Entsetzen aus. In Twitter-Kampaganen wie #TalibanKardesimDegildir ("Die Taliban sind nicht mein Bruder") und #SensinTaliban ("Du bist der Talib") machten sie ihrer Wut auf den Präsidenten Luft. Vor allem türkische Frauenrechtlerinnen haben die Feindlichkeit und Brutalität der Taliban nicht vergessen.

Große Mehrheit der Türk*innen lehnt Scharia ab

Ohnehin hat die Türkei herzlich wenig Ähnlichkeit mit Afghanistan unter den Taliban. Obwohl Erdogan seit Jahren die Religion in den Vordergrund rückt, Islam-Unterricht an Schulen ausweiten und jüngst den Chef der Religionsbehörde DIYANET gar mit einem Gebet das juristische Jahr eröffnen ließ, wollen die meisten Türk*innen, dass die Türkei ein säkularer Staat bleibt und die Religion Privatsache. Nach aktuellen Umfragen wollen nur 12 Prozent der Türk*innen einen Staat, der sich an der islamischen Rechtsordnung Scharia orientiert – in Afghanistan liegt dieser Wert bei 99 Prozent.

Ein Erfolgskurs in Afghanistan zeichnet sich für Erdogan kurzfristig ohnehin nicht ab. Da ist zum einen die fragile Sicherheitslage. Spätestens die IS-Attentate am Flughafen Kabul haben vor Augen geführt, was für eine riskante Mission es für die Türkei wäre, den Flughafen zu betreiben, selbst wenn sie gute Beziehungen zu den Taliban unterhalten. Zwar träumt so mancher in Ankara davon, auch wirtschaftlich in Afghanistan gute Geschäfte zu machen, Bauunternehmer*innen etwas dort beim Wiederaufbau aktiv werden zu lassen. Doch bis die dafür nötige Stabilität im Land erreicht ist, könnte noch viel Zeit vergehen.

Türkei braucht Stabilität in Afghanistan

Dabei hat Erdogan auch innenpolitisch großes Interesse an einem stabilen Afghanistan: In der Türkei leben laut eigenen Angaben bereits 300.000 afghanische Flüchtlinge, neue Flüchtlingsströme werden erwartet. Insgesamt beherbergt die Türkei derzeit mindestens vier Millionen Flüchtlinge, die Fremdenfeindlichkeit im Land steigt. Erdogan erklärte Anfang der Woche bei einem Telefongespräch mit seinem deutschen Amtskollegen Steinmeier, die Türkei habe nicht die Kapazitäten für eine neue „Migrationslast“ aus Afghanistan. Sein Land, das betonte er jüngst immer wieder, sei nicht das Flüchtlingscamp der EU. Entsprechend baut die Türkei an ihrer östlichen Landesgrenze derzeit eine gigantische Mauer, um Flüchtlinge abzuhalten.

Ihre neue Afghanistan-Strategie bleibt für die Türkei ein außenpolitischer Drahtseilakt. Was türkische Politiker*innen und Medien gerne unter den Tisch fallen lassen: Das türkische Militär war viele Jahre lang in Afghanistan als NATO-Mitglied und an der Seite der USA präsent. Die letzten sechs Jahre bewachten türkische Soldaten bereits den Flughafen in Kabul. Würden sie das weiter tun, wäre das für die USA und die EU von Vorteil, schließlich ist der Flughafen Afghanistans wichtigstes Tor zur Welt, ob für Evakuierungsflüge oder für Hilfslieferungen. Die Taliban aber wollen die Bewachung des Flughafens selber übernehmen und der Türkei nur die Betreibung der zivilen Luftfahrt überlassen. Das wiederum ist der Türkei bisher noch zu gefährlich. Und ob das ganze Unterfangen Erdogans angespannte Beziehungen zur den USA verbessern kann oder ganz im Gegenteil verschärfen würde, ist noch vollkommen ungewiss.

Erdogan nicht mehr so siegesgewiss

Dementsprechend wandelte sich Erdogans Taliban-Rhetorik in den letzten Tagen. Bezüglich des Flughafens Kabul gebe es derzeit keine positive Entwicklung, verkündete Erdogan vergangene Woche. Auch wisse man nicht, wie lange das Übergangskabinett in Afghanistan bestehen werde. „Unsere Aufgabe ist es, den Prozess genau zu beobachten“, so Erdogan. Siegesgewissheit klingt anders.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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