Warum Erdoğan den Ausnahmezustand zur neuen türkischen Norm macht
Ein Ausnahmezustand ist, wie der Name schon sagt, für außergewöhnliche Zeiten vorgesehen. Nach türkischen Recht etwa im Falle einer Naturkatastrophe, schweren Wirtschaftskrise oder aber wenn sich ausbreitende Gewalt die Demokratie und öffentliche Ordnung gefährdet. Die türkische Regierung rief ihn nach dem blutigen Putschversuch vom 15. Juli 2016 zunächst für drei Monate aus – vorgeblich, um Putschisten und Terroristen damit effektiver bekämpfen zu können. Doch von einer vorübergehenden Situation kann mittlerweile keine Rede mehr sein.
Siebte Verlängerung des Ausnahmezustandes
Am 19. April läuft der Ausnahmezustand aus, doch das Kabinett empfahl am Dienstagabend, ihn zum siebten Mal zu verlängern. Das Parlament muss das noch absegnen, doch dafür ist die Mehrheit sicher. In der Türkei wundert sich niemand mehr darüber. „Im momentanen Ausnahmezustand ist das, was früher die Ausnahme war, scheinbar zur neuen Norm geworden“, klagt die NGO Civil Rights Defenders in einem aktuellen Bericht.
Tatsächlich ist spätestens seit dem Putschversuch nichts mehr normal in der Türkei. Im Ausnahmezustand sind die Grundrechte eingeschränkt, kann Präsident Recep Tayyip Erdoğan per Dekret regieren. Seither wurden 150.000 Staatsbedienstete entlassen, weil sie angeblich in den Putsch verwickelt sein sollen, das Vermögen zahlreicher Bürger beschlagnahmt und über 64.000 Menschen wegen Terrorismus-Vorwürfen ins Gefängnis geworfen. Mehr als 150 Journalisten und neun Parlamentarier der pro-kurdischen Oppostionspartei HDP sitzen hinter Gittern.
Lebenslange Haft für Journalisten
Die Gefangenen bleiben teilweise jahrelang in Untersuchungshaft, ohne das überhaupt ein Prozess eröffnet wird – auch weil die Gerichte vollkommen überlastet sind. Völlig überzogene, politisch motivierte Urteile trotz Mangel an Beweisen häufen sich. So wurden etwa sechs bekannte Journalisten im Februar zu lebenslanger Haft verurteilt.
Zudem wurden mehr als 170 Medien und Verlage sowie über 1400 Vereine und Nichtregierungsorganisationen per Dekret geschlossen. Kurzum wurde alles unternommen, um jede kritische Stimme, die nicht auf Erdoğans Linie ist, zu unterdrücken. Was von der Regierung als Maßnahme zum Schutz der Demokratie angepriesen wird, hat diese aus den Angeln gehoben.
Viele Türken gehen ins Exil
Seither herrscht in der Türkei großes Schweigen. Die meisten Medien berichten kaum noch über kritische Themen. Das Schicksal der Entlassenen und Inhaftierten wird totgeschwiegen. Zudem traut sich kaum noch jemand, für seine Rechte auf die Straße zu gehen. Als Ausweg aus diesem Klima der Angst sehen viele regierungskritische Türken bloß das Exil – oder wählen ein gänzlich unpolitisches, angepasstes Leben.
Die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahmen nach dem Putschversuch bereitet auch der EU-Kommission „ernsthafte Sorgen“. So heißt es in ihrem aktuellen Türkei-Bericht, der am Dienstag vorgestellt wurde. Darin attestiert die EU-Kommission dem Land schwerwiegende Rückschritte bei den Themen Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und Unabhängigkeit der Justiz und forderte die türkische Regierung auf, den Ausnahmezustand sofort zu beenden. Das sei entscheidend, um den EU-Beitrittsprozess überhaupt weiterführen zu können.
Präsident Erdoğan will die absolute Macht
Erdoğan hingegen denkt in keiner Weise daran, diesen Zustand zu ändern. Zwar erklärte er noch Ende März beim EU-Türkei-Gipfel im bulgarischen Varna, der EU-Beitritt sei das strategische Ziel seines Landes. Doch das sind bloß blumige Worte, denen kaum Taten folgen dürften. Politisch ist der Ausnahmezustand für ihn allzu praktisch: die Macht des Parlamentes ist beschnitten, seine per Dekret beschlossenen Gesetze können nicht vom Verfassungsgericht angefochten werden.
Mindestens bis zu den nächsten Wahlen dürfte er wohl den Ausnahmezustand fortführen. Eigentlich sollten diese im November 2019 stattfinden, doch am heutigen Mittwoch kündigte Erdoğan an, sie schon auf diesen Juni vorzuziehen. Die Abstimmung ist für ihn entscheidend: denn dann werden gleichzeitig Präsident und Parlament gewählt. Falls er beide Wahlen mit absoluter Mehrheit gewinnt, tritt das von ihm angestrebte Präsidialsystem endgültig in Kraft. Das wurde vor einem Jahr per Referendum bestätigt und bündelt alle Macht im Staate in seinen Händen. Bis dahin garantiert der Ausnahmezustand ihm diese Macht.
Ankara fürchtet neue Proteste
Eine Aufhebung des Ausnahmezustandes wäre für Erdoğan und seine Regierung zudem hoch riskant: So könnten etwa landesweite regierungskritische Proteste ausbrechen - die angestaute Wut ist groß. Doch derzeit ist das Demonstrationsrecht eingeschränkt, sind die Befugnisse der Polizei ausgeweitet.
So versuchte die Polizei zu verhindern, dass die republikanische Volkspartei CHP, Schwesterpartei der SPD, am Montag in Istanbul gegen den Ausnahmezustand protestiert. Sie hatte zu landesweiten Demonstrationen aufgerufen. „Die AKP hatte Angst, als sie den Ausnahmezustand ausrief, und ihre Angst hält an“, erklärte CHP-Abgeordnete Aytuğ Atıcı, „Der Ausnahmezustand ist Ausdruck ihrer Hilflosigkeit.“
Die Opposition ist hilflos
Hilflos ist auch die CHP-Opposition, im Ausnahmezustand zur Statistin degradiert. Sie weiß kaum, was sie der Übermacht des Staatspräsidenten entgegensetzen kann. Weder geben die Medien ihr eine Stimme, noch hat sie wirklich fortschrittliche Ideen für einen demokratischen türkischen Normalzustand.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.