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Warum Erdogan den Ausnahmezustand nicht mehr braucht

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat sein Ziel erreicht. Das von ihm entworfene autoritäre Präsidialsystem ist seit Montag in Kraft. Die Märkte reagierten prompt.
von Kristina Karasu · 11. Juli 2018
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Stolz und entspannt durchlief Erdogan die ausladenden Feierlichkeiten, die auf fast allen türkischen Kanälen stundenlang übertragen wurden. Er hat nun erreicht, was er seit Jahren anstrebte: ein Staatssystem, das zu grossen Teilen in seinen Händen liegt. Ein historischer Moment, jubelten die Kommentoren und sprachen von einer neuen Rebublik, einer neuen Ära. 101 Kanonenschüsse wurden in Izmir abgefeuert, das Militär stand vor Erdogan in Ankara stramm.

Entlassung per Dekret

Bei der Zeremonie vor Erdogans gigantischem Präsidentenpalast waren Staats- und Regierungschefs aus 22 Ländern zugegeben - doch Führer der EU und USA hielten sich fern. Stattdessen kamen der russische Ministerpräsident Dimitri Medwedjew, der als autoritär bekannte Staatschef Venezuelas Nicolas Maduro und Italiens Ex-Premier Silvio Berlusconi. Deutschland wurde durch Gerhard Schröder vertreten, dem gute Beziehungen zu Erdogan nachgesagt werden. Tatsächlich unterstützte Schröder während seiner Amtszeit den EU-Beitrittsprozess der Türkei. Damals wurde Erdogan in Europa noch als demokratischer Reformpolitiker gelobt.

Auch am Montag versprach Erdogan, die Türkei werde nun zu mehr Wohlstand, Demokratie und Freiheiten gelangen. Doch in Europa scheint daran niemand mehr zu glauben. Nicht ohne Grund. Noch am Wochenende ließ Erdogan über 18.500 Staatsbedienstete per Dekret entlassen, angeblich weil sie Terrororganisationen und den Putschversuch vom 15. Juli 2016 unterstützt haben sollen. Die meisten von ihnen arbeiteten im Sicherheitsapparat, doch auch Lehrer und angesehene Wissenschaftler gehören zu den Entlassenen. Das Timing legt nahe, dass die Herrschenden "zwischen Tür und Angel, ohne konkrete Beweise und für alle Fälle diese harten Sanktionen verabschiedeten", urteilte das regierungskritische Onlineportal Arti Gercek.

Nur wenig Freude

Zugleich hielt Erdogan sein Wahlversprechen und hob den seit zwei Jahre anhaltenden Ausnahmezustand auf. Der hatte viele Grundrechte und Freiheiten der türkischen Bürger beschnitten, das Parlament geschwächt und gab Erdogan die Macht, per Dekret zu regieren. Trotzdem herrscht bei Regierungsgegnern nun wenig Freude. "Der vorübergehende Ausnahmezustand endet, der dauerhafte Ausnahmezustand beginnt", titelte die linke Tageszeitung Birgün am Sonntag.

Tatsächlich braucht Erdogan den Ausnahmezustand nun nicht mehr, das neue Präsidialsystem beschert ihm die selbe Machtfülle. Er kann nun eigenständig Gesetze erlassen, Minster und Verfassungsrichter einsetzen, ja sogar in die Steuerbehörde eingreifen. Sein am Montag vorgestelltes Kabinett passt in dieses Bild: Nur vier der neuen Minister sind gewählte Politiker, die anderen sind Erdogan nahestehende Bürokraten, außerdem Figuren aus Wissenschaft und Wirtschaft. Erdogans Schwiegersohn Berat Albayrak wurde zum Finanzminister ernannt.

Lira-Kursverfall

Die Märkte reagierten prompt negativ, die türkische Lira verlor erneut gegenüber Dollar und Euro an Wert. Denn Albayrak hatte in den letzten Monaten ausländischen Mächten die Schuld am Kursverfall der Lira gegeben, und Erdogan selbst hatte vor der Wahl angekündigt, stärker in die Finanzpolitik der Zentralbank eingreifen zu wollen. Führende AKP-Politiker gingen hingegen leer aus.

Der im Ausland geschätzte langjährige Finanzminister Mehmet Simsek erhielt keinen Posten, ebenso der letzte Ministerpräsident Binali Yildirim. Sie hatten Erdogan auf den Thron geholfen, nun wurden sie durch dem Präsidenten ergebene Bürokraten ersetzt. Dabei ist die Besetzungsliste eigentlich zweitrangig, glaubt die Tageszeitung Habertürk: "die Hauptsache ist nun der Präsident".

Interne Machtkämpfe

Auch im Parlament ist die AKP geschwächt. Zum einen, weil das Präsidialsystem das Parlament entmachtet, zum anderen, weil die AKP bei den Wahlen vom 24. Juni ihre Mehrheit verlor und nun auf eine Koalition mit der ultrarechten MHP angewiesen ist. Das wird wohl einen noch nationalistischere Kurs zur Folge haben und etwa eine friedliche Lösung des Kurdenproblems behindern. Für die Opposition wie etwa die republikanische CHP, Schwesterpartei der SPD, sind das erschwerte Bedingungen. Vor allem weil sich die CHP derzeit in internen Machtkämpfen befindet.

Als Erdogan am Montag das Parlament betrat, blieben die Abgeordneten der Opposition demonstrativ sitzen. Doch um eine effektive Oppositionspolitik zu betreiben, müssen sie mehr liefern als Gesten. Eine erneute Annäherung der Türkei an die EU ist unter diesen Umständen kaum zu erwarten. Zwar prophezeihen regierungsnahe Zeitungen eine Entspannung und Normalisierung der Beziehungen - was allein schon aus wirtschaftlichen Gründen für Erdogan unumgehbar ist. Doch ein EU-Beitritt hat wohl keine Priorität mehr. Erdogan liess das EU-Ministerium abschaffen, es wurde mit dem Außenministerium zusammengelegt.

Keine Wiederbelebung

Auch von Seiten der EU ist keine Wiederbelebung der Verhandlungen zu erwarten, glaubt die Hürriyet Daily News: "Die Beziehungen zur Europäischen Union werden mindestens sechs Monate eingefroren werden wegen der Ratspräsidentschaft Österreichs, das die vorderste Front der anti-türkischen Stimmung in Europa bildet." Vermutlich wird die EU nun versuchen, sich mit einem allmächtigen Erdogan zu arrangieren. Ob man will oder nicht: allein schon durch die neuen Flüchtlingsvereinbarungen der EU kann man auf den starken Mann am Bosporus kaum verzichten.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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