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Warum die Wahl in Brasilien so wichtig ist – auch für die Welt

Wenn am Sonntag in Brasilien ein neuer Präsident gewählt wird, geht es nicht nur um die Frage, wer das Land in den kommenden vier Jahren führt. Es steht weitaus mehr auf dem Spiel – für Brasilien und für die Welt.
von Esteban Paulón · 30. September 2022
Hoffnungsträger: Lula will zum dritten Mal brasilianischer Präsident werden.
Hoffnungsträger: Lula will zum dritten Mal brasilianischer Präsident werden.

Luis Inazio „Lula“ Da Silva reckt alle neun Finger in den Himmel. Der frühere Präsident zählt damit die Tage herunter, die es noch dauert bis zur Wahl am Sonntag. Den kleinen Finger seiner linken Hand hat Lula schon in jungen Jahren verloren: Er geriet in eine Presse. Was bei Auftritten des brasilianischen Präsidenten und Lulas Widersacher Jair Bolsonaro regelmäßig für Spott sorgt, ist für die Anhänger Lulas ein Quell des Stolzes. Der fehlende Finger ist für sie ein Symbol für Lulas Arbeiterherkunft und weit davon entfernt, ihn in Verlegenheit zu bringen.

Doch bei der Wahl am Sonntag geht es um weit mehr als nur die Frage, wer der nächste Präsident Brasiliens wird. Es geht auch um die Besetzung von 27 Gouverneursposten, der 513 Sitze in der Abgeordnetenkammer und eines Drittels des Senats. Es geht um die Frage, wie Brasilien den Auswege aus den globalen Krise findet, die sich aus der Corona-Pandemie und der russischen Invasion der Ukraine ergeben.

Bolsonaro: Corona-Leugner und Rechtspopulist

Bolsonaro kam 2018 an die Macht, nachdem der den damaligen Kandidaten der Arbeiterpartei (PT) Fernando Hadad knapp geschlagen hatte. Zum Erfolg verhalf ihm ein „anti-kastenpolitischer“ Wahlkampf, typisch für die rechten und rechtsextremen Populismen, die in die überall in der Welt an der Tagesordnung sind. Bolsonaro präsentierte sich als „Außenseiter“, als jemand, der gekommen ist, um die Probleme der Menschen zu lösen und die wahren Werte der Brasilianer*innen zu repräsentieren.

Als Corona-Leugner, als erklärter Feind des Feminismus, als Umarmer der reaktionärsten Evangelikalen, die die „Gender-Ideologie“ anprangern und die Wirksamkeit von Impfstoffen infrage stellen, machte Bolsonaro politische Inkorrektheit zu seinem Markenzeichen. In einem Land, das von Korruption, wirtschaftlicher Stagnation und Perspektivlosigkeit durchzogen zu sein schien, kam Bolsonaro, und um das System zu „erneuern“ und den „Status quo“ sowie die „Medienmonopole“ und jedes progressive Vorhaben seiner Amtsvorgänger*innen zu bekämpfen.

Selbst vor kriminellen Aktionen wie der brutalen Abholzung des Amazonas-Gebiets – der größten grünen Lunge der Welt – schreckte Boslonaro nicht zurück, auch wenn es ihm heftige Kritik der internationalen Gemeinschaft und sogar das Einfrieren der Verhandlungen über das Freihandelsabkommen zwischen dem Mercosur und der Europäischen Union einbrachte.  Bolsonaro selbst kann indes keine Verfehlungen erkennen. In einer Debatte vor der Wahl sagte er kürzlich,  dass sein Handeln im Rahmen der Gesetze stattfinde und er kein Problem in dem begangenen Ökozid sehe. Und er fügte hinzu, dass er, wenn er die Wahl gewinnt, den Amazonas aufforsten werde.

Lula: Schöpfer des „brasilianischen Wunders“

Auf der anderen Seite steht Luis Inazio „Lula“ Da Silva, ein erfahrener Politiker aus der Arbeiterschaft, lange schon sozial und politisch engagiert, der als Präsident zwischen 2003 und 2011 die Geschicke Brasiliens lenkte. Als Schöpfer des „brasilianischen Wunders“ der frühen 2000er Jahre, das Millionen Brasilianer*innen aus extremer Armut befreite, schufen die Regierungen von Lula und der Arbeiterpartei eine beneidenswerte soziale Aufwärtsmobilität, stärkten die Mittelschicht, brachten Brasilien als florierende Wirtschaft auf die internationale Bühne  und ermöglichten Gesundheits- und Bildungspolitik von enormer Wirkung. Programme wie „fome cero“ (Null Hunger) und „bolsa familia“ wurden zu einem Vorbild der öffentlichen Politik für den Kampf gegen Hunger und extreme Armut in der gesamten Region.

Darüber hinaus gaben die PT-Regierungen (nicht nur die von Lula, sondern auch die von seiner Nachfolgerin Dilma Roussef) historisch ausgeschlossenen und  segregierten Gruppen eine Stimme und Partizipation. Schwarze, indigene Bevölkerungsgruppen, landlose Bewegungen und das LGBTI+-Kollektiv profitierten von Programmen und Aktionen, die die brasilianische Gesellschaft veränderten.

Ein starkes Bündnis

Nachdem Lula 580 Tage grundlos in einem Staatsgefängnis in Curitiba verbracht hat, kehrt Lula ohne Groll mit der Ambition zurück, die Gesellschaft wieder zu vereinen und zu versöhnen. Die gemeinsame Formel mit dem ehemaligen Gouverneur von São Paulo (und ehemaligen Widersacher) Geraldo Alkim, des Gewerkschaftsdachverbandes und der PSB (Sozialistische Partei Brasiliens) sowie unzählige politische und soziale Akteur*innen wurden öffentlich im Bündnis „Together for Brazil“ (Zusammen für Brasilien) präsentiert. Aus dieser Gemeinschaft entsteht Stärke.

Der deutliche Vorsprung auf Bolsonaro in den Umfragen nährt die Erwartung, dass Lula bereits in der ersten Runde zum dritten Mal zum Präsidenten Brasiliens gewählt wird und den Weg der Rückkehr des Landes zu internationaler Zusammenarbeit einschlägt, den populistischen Albtraum von Bolsonaro überwindet  und  dazu beiträgt, Zusammenhalt und sozialen Frieden zu fördern. Wie deutlich das Ergebnis ausfällt, wird auch darüber entscheiden, ob Bolsonaro seine Niederlage anerkennt oder nicht.

Die Wahl ist aber auch über die Grenzen Brasiliens hinaus entscheidend – für die Region und die Welt. Einerseits, weil ein Triumph von Lula eine regionale Tendenz zu progressiven Regierungen festigen würde, die sich mit den Wahlsiegen von Gabriel Boric in Chile, Gustavo Petro in Kolumbien und Xiomara Castro in Honduras eröffnet hat.

Raus aus der Isolation

Ein Sieg Lulas ist aber auch deshalb wichtig, weil er eines der bedeutendsten Länder des südamerikanischen Kontinents aus einer unerklärlichen und launischen Isolation herausholen würde, die Beziehungen zu regionalen Partnern reaktivieren und Integrationsblöcke wie den Mercosur stärken würde, die heute nicht nur durch Bolsonaros Ablehnung, sondern auch durch das geringe Interesse der Präsidenten Paraguays und Uruguays, Mario Abdo und Luis Lacalle Pou, sehr geschwächt sind.

Und global wäre ein Wahlsieg Lulas und der daraus resultierende Rückzug der rechtspopulistischen Regierung von Bolsonaro ein Hauch frischer Luft inmitten des Aufstiegs der extremen Rechten in mehreren Ländern Europas, der seinen vorläufigen Höhepunkt im Wahlsieg Giorgia Melonis bei den italienischen Wahlen fand.

Die ganze Welt hat also Grund, auf einen durchschlagenden und klaren Wahlsieg Lulas zu hoffen. Er wird nicht nur der nicht nur die Menschen in Brasilien wieder glücklich macht, sondern auch Hoffnung macht im Kampf gegen den Rechtspopulismus in der Welt.

Übersetzt von Conny Reuter.

Autor*in
Esteban Paulón

ist internationaler Sekretär der PS Argentinien und unser regionaler Koordinator der Alianza Progresista de las Americas.

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