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Warum die Türkei im Juni „zum letzten Mal“ wählen könnte

Präsident Erdoğan hat die Wahlen in seinem Land auf den 24. Juni vorgezogen. Wahlkampf in Deutschland machen darf er diesmal aber nicht. In der Türkei gerät die Opposition indes immer stärker unter Druck – und ist zu verzweifelten Maßnahmen bereit.
von Paul Starzmann · 23. April 2018
Nach dem Ausmahmezustand in der Türkei warnen Beobachter vor maßlosen und unrechtmäßigen Methoden.
Nach dem Ausmahmezustand in der Türkei warnen Beobachter vor maßlosen und unrechtmäßigen Methoden.

Wahlkampf türkischer Politiker auf deutschem Boden – das wird es in diesem Jahr nicht geben. Das bestätigte SPD-Außenminister Heiko Maas am Montag am Rande des G7-Treffens im kanadischen Toronto. In der Bundesrepublik bestehe kurz vor nationalen Wahlen für Politiker aus Nicht-EU-Staaten ein Auftrittsverbot. „Das gilt“, bekräftigte Maas. „Und das gilt für alle, unabhängig davon, von wo sie kommen.“ Ob das für einen geplanten Auftritt des türkischen Außenministers Mevlut Çavuşoğlu ebenfalls gilt, ist unklar. Çavuşoğlu will am 25. Jahrestags des Anschlags von Solingen bei einer Gedenkveranstaltung sprechen.

Das Ende der türkischen Demokratie

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hat vor wenigen Tagen angekündigt, auch in EU-Staaten Wahlkampf machen zu wollen – ohne jedoch den geplanten Ort zu benennen. Zuvor hatte er die für 2019 vorgesehenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen überraschend auf den 24. Juni 2018 vorverlegen lassen.

Es könnte die „letzte Wahl“ der Türkei werden, schreibt die Kolumnistin Nuray Mert in der englischen Ausgabe der Zeitung „Hürriyet“. Nicht nur sie selbst, auch Politiker der regierenden AKP seien davon überzeugt, dass die kommende Abstimmung eine Zeitenwende einleiten werde, so Mert. Der Grund: Mit der nächsten Wahl soll das Präsidialsystem in Kraft treten, so wie 2017 per Referendum beschlossen. Dann wäre Erdoğan am Ziel: Er bekäme die nahezu uneingeschränkte Macht im Land. Die Demokratie wäre am Ende.

Sozialdemokraten helfen der „İYİ Parti“

Insofern kann es dem Präsidenten offenbar nicht schnell genug gehen mit der nächsten Wahl. Je länger er wartet, desto schwieriger könnte für ihn ein Sieg werden. Denn seine Beliebtheit droht unter der lahmenden Wirtschaft und der steigenden Inflationsrate zu leiden. Außerdem will Erdoğan wohl die momentane Schwäche der Opposition ausnutzen.

So bekommt die sozialdemokratische CHP, die größte Oppositionskraft und eine Schwesterpartei der SPD, seit Jahren keinen Fuß auf den Boden. Immer verzweifelter wirkt ihr Auftreten. Inzwischen ist ihr Chef Kemal Kılıçdaroğlu sogar zu einer ungewöhnlichen Maßnahme bereit: Am vergangenen Sonntag wies er 15 Parlamentarier der eigenen Partei an, die CHP zu verlassen und in die neue „İYİ Parti“, die „Gute Partei“, einzutreten. Damit wollen die türkischen Sozialdemokraten der „İYİ Parti“ helfen, die rechtlichen Hürden für die Teilnahme an den Parlamentswahlen zu überwinden. Mit dem Übertritt der CHP-Abgeordneten hat die „İYİ Parti“ nun eine eigene Parlamentsfraktion und darf deshalb zur Wahl antreten. Das Ziel von CHP und „İYİ Parti“: zusammen die AKP-Mehrheit brechen.

Es droht ein weiterer Rechtsruck

Die „İYİ Parti“ setzt sich aus Abtrünnigen der rechtsextremen MHP zusammen. Der Grund für die Spaltung der Partei ist der regimetreue MHP-Chef Devlet Bahçeli, der die AKP-Regierung offen unterstützt. Erdoğan dankt es dem Anführer der Ultranationalisten, indem er deren Forderung nach der Wiedereinführung der Todesstrafe aufgreift oder sich öffentlich mit dem Faschisten-Gruß der „Grauen Wölfe“ zeigt. Der neue Schulterschluss zwischen AKP und MHP könnte bei den nächsten Wahlen zu einem massiven Rechtsruck führen.

Der Chef der links-liberalen, pro-kurdischen HDP, Sezai Temelli, ist jedoch überzeugt, dass es so weit nicht kommen wird. Er betonte vor wenigen Tagen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der Türkei. Es gebe eine politische Krise sowie ein Legitimationsproblem der Regierung. „Das Land ist auf dem Weg in den Kollaps“, sagte er. Temelli ist sicher, dass AKP und MHP deshalb die Wahlen verlieren werden. Er erwartet sogar, dass die beiden Parteien bald „auf dem Müllhaufen der Geschichte“ landen.

Islamisten als neue Konkurrenz für Erdoğan

Solche Aussagen können jedoch auch als Durchhalteparolen gewertet werden. Sieht sich die HDP doch größten staatlichen Repressalien ausgesetzt – bis hin zur Verhaftung ihrer Funktionäre und Mitglieder. Allerdings ist in der türkischen Politik momentan vieles in Bewegung. Sollte der Präsident am 24. Juni den ersten Wahlgang nicht für sich entscheiden können, sind für den zweiten Durchlauf alle möglichen Anti-Erdoğan-Allianzen denkbar. Auch könnte der Präsident noch einen gefährlichen Konkurrenten bekommen – seinen Amtsvorgänger und früheren Freund Abdullah Gül. Der könnte möglicherweise für die Islamisten der „Saadet Partisi“, der „Partei der Glückseligkeit“, ins Rennen gehen.

Beim Verfassungsreferendum im April 2017 waren es vor allem die Stimmen aus Deutschland, auf die sich Erdoğan verlassen konnte – und die ihm schließlich den knappen Sieg bescherten. Wie damals könnte es bei der jetzt anstehenden Wahl wieder eng werden für den Präsidenten. Umso mehr wird es ihn ärgern, dass in diesem Jahr keine Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in der Bundesrepublik erlaubt sind.

Autor*in
Paul Starzmann

ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.

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