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Warum die NATO nicht hirntot, aber paranoid ist

Allen Unkenrufen zum Trotz: 70 Jahre nach ihrer Gründung ist die NATO quicklebendig. Die Bedrohung ihrer Mitglieder ist aber primär nicht mehr militärischer Natur. Um wehrhaft zu bleiben, müssen sie Justiz, Polizei und Geheimdienste stärken.
von Marius Müller-Hennig · 3. Dezember 2019
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Das Jubiläum anlässlich des 70sten Geburtstags der NATO könnte eigentlich in guter Stimmung verlaufen. Schließlich hat das Militärbündnis seinen zentralen Gegenspieler, den Warschauer Pakt, bereits 28 Jahre überlebt. Und obwohl die jüngsten Dissonanzen (Stichwort: „Hirntod“) jüngst ein anderes Bild gezeichnet haben, ist die Allianz militärisch und strategisch quicklebendig. Dass die Allianz trotz interner Querelen funktioniert, liegt an ihrem klaren und weiterhin zeitgemäßen Mandat, ausbuchstabiert in Artikel 5:

Artikel 5: Einer für alle, alle für einen

„Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen (…) der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, (…) einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, (…)“.

Der Vertragstext lässt keine Zweifel: Die NATO ist ein defensives Militär-Bündnis und kein westlicher Interventionszusammenschluss. Die Tatsache, dass das jüngste strategische Konzept von 2010 einen wesentlich weiteren Aufgabenbereich für die NATO beschreibt als der NATO-Vertrag selbst, muss man indes zur Kenntnis nehmen. Dort werden statt einer gleich drei essentielle Kernaufgaben definiert: 1.) Kollektive Verteidigung, 2.) Krisenmanagement, 3.) Kooperative Sicherheit.

„Out-of-area“-Einsätze oder Bündnisverteidigung

Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass die NATO sich unter den derzeitigen politischen Rahmenbedingungen zu einem neuen Strategischen Konzept durchringen kann, stellen sich drei grundlegende Fragen, die einer Klärung bedürfen:

Wieviel „Out-of-Area“ Engagement passt mit dem Kernauftrag der NATO zusammen? Im Bereich kollektive Verteidigung ist der Auftrag der NATO klar, der Verpflichtungsgrad der Mitgliedstaaten hoch und die Bilanz makellos: Seit Gründung der NATO hat es keinen militärischen Angriff auf NATO-Territorium mehr gegeben. Die Bilanz des Out-of-Area Engagements ist hingegen bestenfalls durchwachsen. Zwar hat sich das Bündnis operativ in Teilbereichen sowohl auf dem Balkan als auch in Afghanistan durchaus bewährt, aber die sehr unterschiedlichen Interessen und Verpflichtungsgrade haben auch Risse und Sollbruchstellen offengelegt, die dem Bündnis potentiell schaden. Die Operationsführung durch die NATO war und ist nicht alternativlos, und die politische Signalwirkung eines in anderen Weltregionen intervenierenden westlichen Militärbündnisses war politisch für die Legitimität und Akzeptanz der Einsätze zumindest nicht immer hilfreich, um es vorsichtig auszudrücken.

Sind Russland und China der Feind?

Wie weit soll die Ambition von Verteidigung hin zu Sicherheit ausgeweitet werden? Interessant ist vor dem Hintergrund des Spannungsfelds „Bündnisverteidigung – Out of Area Einsätze“ die begriffliche Verschiebung in den NATO-Dokumenten. Im strategischen Konzept von 2010 wird die Auflistung der drei „Kernbereiche“ wie folgt eingeleitet: „Das moderne Sicherheitsumfeld umfasst ein breites und sich weiter entwickelndes Set an Herausforderungen für die Sicherheit des NATO-Territoriums und die Bevölkerung der NATO-Staaten. Um ihre Sicherheit sicherzustellen muss und wird die Allianz weiterhin effektiv die drei essentiellen Kernaufgaben erfüllen, die zum Schutz der NATO-Alliierten beitragen“. Es ist klar, dass mit solch einer Formulierung das eigene Mandat (laut NATO-Vertrag „Bündnisverteidigung“ gegen bewaffnete Angriffe) dramatisch re-interpretiert und ausgeweitet wurde.

Dass tatsächlich genau dieser Punkt im Zentrum der nahenden NATO-Debatte stehen dürfte, wurde bei der Pressekonferenz von Generalsekretär Stoltenberg und Präsident Macron am vergangenen Donnerstag klar. Macron sagte dort deutlich, dass er nicht Russland oder China als Feind der NATO sehe. Der gemeinsame Feind der Allianz sei der Terrorismus, der die Mitgliedsländer angreife. Damit ist klar, wo der französische Präsident die Zukunft der NATO sieht: in Anti-Terror Einsätzen außerhalb des NATO-Territoriums.

Bedrohung durch Terrorismus

Hier kann man Macron nur zum Teil zustimmen: Es ist richtig, dass die Allianz China und Russland nicht zum Feind erklären sollte, auch wenn sich NATO-Alliierte durch Russlands Verhalten der letzten Jahre bedroht fühlen. Ebenso kann man die These nachvollziehen, dass von Terroranschlägen derzeit die unmittelbarste und akuteste Bedrohung (west-)europäischer Sicherheit ausgeht. Der folgende Kurzschluss zur NATO ist indes nicht überzeugend. Es ist alles andere als ausgemacht, dass diese Bedrohung über militärische Anti-Terror Einsätze im Ausland nachhaltig reduziert werden kann und dass ausgerechnet der NATO-Rahmen hierfür am geeignetsten wäre.

Welche Fähigkeiten brauchen wir dafür, was kostet das? Wenn man also zur Einsicht kommt, dass eine stärkere Refokussierung der NATO auf ihren defensiven Kernauftrag der richtig Weg ist, stellt sich als nächstes die Frage der erforderlichen Fähigkeiten und damit auch der Finanzen. Es ist unstrittig, dass die NATO und die Bundeswehr bis 2014 die Landes- und Bündnisverteidigung zu sehr vernachlässigt hatten. Angesichts der Bedrohungswahrnehmung der osteuropäischen Alliierten hat man inzwischen die notwendigen Weichenstellungen in der Allianz und in Deutschland vorgenommen und auch substantiell mehr Ressourcen bereitgestellt.

Was bringt militärische Aufrüstung heute?

Der Nutzen weiterer Aufwüchse bleibt indes fraglich, im schlimmsten Fall könnten sie sogar kontraproduktiv wirken (Stichworte „Sicherheitsdilemma“, „Rüstungsspierale“). Tatsächlich führt die damit eng verbundene Debatte über Deutschland und das Zwei-Prozent-Ziel in die Irre. Zum einen sollte die Diskussion über erforderliche Fähigkeiten der Bundeswehr und nicht über abstrakte Zahlen geführt werden. Und wenn man tatsächlich zwei Prozent in die Verteidigung Deutschlands investieren wollte, bleibt die Frage bestehen, ob die dann zusätzlich investierten rund 0,5 Prozent (derzeit mehr als 15 Milliarden Euro) direkt in die Bundeswehr fließen sollten.

Die Bedrohung der Bündnismitglieder ist nicht primär militärischer Natur. Neben der von Macron benannten Gefahr durch transnationalen Terrorismus ist auch bei der Bedrohung durch rivalisierende staatliche Akteure der Fokus auf eine symmetrische, militärische Konfrontation verfehlt: Sowohl auf der Krim, als auch mit Blick auf die Ostukraine war der Einsatz konventionellen Militärs nur Teil des russischen Vorgehens. Tatsächlich wird mittlerweile ganz offen hinterfragt, ob militärische Gewalt in Konflikten zwischen hochgerüsteten Staaten auf Augenhöhe (sogenannte „peer-state conflicts“) in China und Russland überhaupt noch Teil des strategischen Kalküls sind.

Hybride Bedrohung ist real und komplex

Warum das gefährliche Wagnis eingehen, einen Gegner militärisch zu bekämpfen, wenn das eigentliche Ziel – ihn zu einem bestimmten Handeln zu zwingen – mit anderen Mitteln viel „billiger“ möglich ist? Schaut man mit dieser Brille auf das aktuelle Konfliktgeschehen, zeigt sich: Die militärische Bedrohung der NATO-Mitgliedstaaten ist abstrakt, die hybride Bedrohung bzw. die Risiken sind hingegen real und komplex. Denn von der Einflussnahme auf Wahlprozesse, über die Unterstützung radikaler politischer Kräfte, massenhafte Cyber-Angriffe bis hin zur gezielten Tötung politischer Gegner im Ausland (sogar unter Einsatz chemischer Kampfstoffe) scheint mittlerweile fast alles (wieder) denkbar.

In solch einer Situation der potentiellen „weaponization of everything“ läuft ein Militärbündnis Gefahr, paranoid zu werden und einen großen Fehler zu begehen: die „securitization of everything“. Wenn plötzlich alle gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und staatlichen Bereiche als Gegenstand eines postmodernen Kriegs ohne Schranken interpretiert werden, riskiert man, die Errungenschaften des demokratischen Rechtstaats in Frage zu stellen. Das ist keine zielführende Strategie.

Nicht die Höhe des Militärbudgets entscheidet

Stattdessen sollte man sich auf die Stärken des demokratischen Rechtsstaates stützen und ihn an den Stellen ausbauen, an denen er vernachlässigt wurde. Eine widerstandsfähige Demokratie braucht eine leistungsfähige Justiz und Polizei ebenso dringend wie ein leistungsfähiges Militär, um staatlichen wie nicht-staatlichen Herausforderern widerstehen und Risiken vorbeugen zu können. Hier liegt einiges im Argen. Eine „Justiz vor dem Kollaps“ und eine überlastete Polizei, die „nicht genügend Personal hat, um gleichzeitig Gefahren abzuwehren und Strafverfolgung zu betreiben“ stellen eine unmittelbare Gefahr dar. Nur einmal zum Vergleich: Für den neuen „Pakt für den Rechtsstaat“ stellt der Bund den Ländern gerade einmal 220 Millionen Euro bis 2021 zur Verfügung (und dies explizit auch nur einmalig). Eine Erhöhung des Militärbudgets auf 2 Prozent würde hingegen Mehrausgaben von über 15 Milliarden Euro erfordern.

Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Ressourcenfrage mit Blick auf die Verteidigung der NATO ganz anders: Es braucht vor allem mehr Geld für Justiz, Polizei und Geheimdienste, um den demokratischen Rechtsstaat vor Angriffen von innen und außen zu schützen. Dem neoliberalen Zeitgeist der vergangenen Jahrzehnte folgend, hat man die staatlichen Kernfunktionen inklusive Sicherheit, Justiz und Verteidigung zu stark zusammengespart. Weder Bundeswehr noch NATO können diese Lücken allein füllen. Sie sollen das Staats- und Bündnisgebiet militärisch verteidigen und potentielle Aggressoren glaubhaft abschrecken. Dies ist ihre Kernfunktion. Darüber hinaus sollten sie weiterhin Beiträge zum Krisenmanagement im Rahmen internationaler Organisationen wie UN und OSZE leisten, die dem politischen Gewicht Deutschlands gerecht werden, das ist ihre sekundäre Funktion. Für beides zusammen sollten 1,5 Prozent des BIP völlig ausreichen.

Dieser Beitrag erscheint auch in der IPG.

 

 

Autor*in
Marius Müller-Hennig

ist in der Internationalen Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) zuständig für Außen- und Sicherheitspolitik. Zuvor leitete er das FES-Büro in Bosnien-Herzegowina.

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