Wie in den meisten Ländern der Welt hat die Corona-Krise die Agenda in Schweden dramatisch verändert. Hier hat sich die öffentliche Diskussion weg von Fragen kultureller Dimensionen der Einwanderung, der Kriminalität und rechter Identitätspolitik hin zu Fragen des Gesundheitswesens, der Altenpflege, der Arbeitslosigkeit und der Wirtschaft verlagert. Somit hat die Krise eine Gelegenheit eröffnet, die politische Agenda von Fragen der kulturellen Kohäsion auf Aspekte des sozialen Zusammenhalts zu lenken.
Dramatische Einschnitte im Gesundheitswesen
Für progressive politische Bewegungen wird es jetzt von entscheidender Bedeutung sein, die Gelegenheit zu nutzen und Themen wie Solidarität und Zusammenhalt mit sozioökonomischen Aspekten aufzuladen und die jüngsten kulturell bestimmten und eher reaktionären Definitionen dieser zentralen gesellschaftlichen Grundlagen infrage zu stellen.
Als klar wurde, dass sich auch Schweden der wachsenden Pandemie nicht entziehen kann, waren die Hauptthemen in aller Munde, ob das Gesundheitssystem gut vorbereitet und wie groß der Mangel an Intensivbetten sei. Schweden war zu Beginn der Krise eines der Länder mit der geringsten Anzahl an Notfallbetten pro Kopf in Europa.
Seit Anfang der 1990er Jahre wurden dramatische Einschnitte bei den Notfallkontingenten des zivilen Bevölkerungsschutzes vorgenommen. Beispielsweise hatte Schweden 1993 Zugang zu insgesamt 4.300 Intensivpflegebetten mit Beatmungsgeräten, 2018 war die Gesamtzahl auf 574 gesunken. Heute sind sich alle Parteien von links bis rechts einig in der Ablehnung dieser Politik und argumentieren, es sei naiv gewesen, die schwedische Gesellschaft in Krisenzeiten in eine derart verwundbare Position zu manövrieren.
Daseinsvorsorge dem Markt überlassen
Ein ideologisch umstritteneres Thema war die Debatte über den Mangel an medizinischer Notfallausrüstung und Notfallmedizin. Fehlende Notvorräte stehen in engem Zusammenhang mit der marktgesteuerten Deregulierung des Apothekensektors im Jahr 2009. Nach der Privatisierung fiel keinem Akteur die Verantwortung für die Haltung nationaler Notvorräte zu. Stattdessen stützte sich das neue deregulierte System auf die Erwartung, dass der private Markt auch in einer Krise stets in der Lage sein würde, den Bedarf zu decken.
Der verstärkte Einsatz globaler Beschaffungssysteme und die Lieferung erst im Bedarfsfall erhöhten die Anfälligkeit der Arzneimittelversorgung. In diesem neuen System hatten sowohl die neu geschaffenen privaten Apotheken als auch die öffentlichen und privaten Gesundheitsversorger zu geringe Margen, um die lokalen Reservebestände zu bestücken.
75 Prozent der Altenpflegeeinrichtungen betroffen
Die aktuellste gesellschaftliche Diskussion befasst sich mit dem desolaten Zustand der schwedischen Altenpflege. Ursprünglich lag der Schwerpunkt auf der Gesundheitsfürsorge, doch als das Coronavirus mit höchst fatalen Folgen in das Altenpflegesystem eindrang, verlagerte sich der öffentliche Fokus und wir begannen, die Mängel des Systems zu verstehen.
Bis Ende April 2020 wurde das Virus in 75 Prozent der Stockholmer Altenpflegeeinrichtungen nachgewiesen. Höchstwahrscheinlich wurden die Senioren nicht nur durch das Pflegepersonal vor Ort angesteckt, sondern auch durch Mitarbeiter der häuslichen Pflege, die die Senioren in ihren eigenen vier Wänden pflegen. Wie in anderen Ländern wurde der Mangel an Schutzausrüstung für die Mitarbeiter als ein wesentlicher Teil des Problems ausgemacht.
Privatisierung der Altenpflege als Problem
Die Gründe für die katastrophale Exposition der Altenpflege in Schweden gegenüber Covid-19 sind jedoch tiefgreifender als der bloße Mangel an Schutzausrüstung. In Schweden werden die Wohlfahrtsleistungen noch immer aus öffentlichen Mitteln über Steuern finanziert, aber es hat eine weitreichende Privatisierung der Bereitstellung dieser Leistungen stattgefunden. Die umfassende Privatisierung der Altenpflege im Großraum Stockholm, der am stärksten von Covid-19 betroffenen Region Schwedens, hat ein sehr fragmentiertes System geschaffen.
Ältere Menschen können zwischen einem breiten Spektrum an öffentlichen und etwa 80 privaten Pflegeanbietern wählen. Wettbewerb und private Gewinnmaximierung haben jedoch zu einer Zunahme prekärer Beschäftigungsformen geführt. Schlechte Arbeitsbedingungen, ein hoher Anteil an Teilzeitarbeitsplätzen und niedrige Löhne haben zudem dazu geführt, dass viele Pflegekräfte wirtschaftlich anfällig sind und bei Krankheit nicht zuhause bleiben können. Darüber hinaus weist das schwedische Altenpflegesystem im Vergleich zu anderen nordischen Ländern einen höheren Anteil ungelernter Pflegekräfte auf.
Kürzungen im öffentlichen Sektor
Forscher weisen seit langem auf die wachsende Arbeitsbelastung für Pflegekräfte in der Altenpflege hin. In den 1980er Jahren besuchte eine Pflegekraft in einer Tagesschicht durchschnittlich vier ältere Menschen zu Hause, bis 2015 war diese Zahl auf zwölf Personen angestiegen, wobei die Hälfte der Besuche weniger als 15 Minuten dauerte. Die Unterfinanzierung der Einrichtungen des öffentlichen Sektors war ebenfalls ein Problem für die Qualität der Dienstleistungen. Vor dem Ausbruch der Corona-Krise gaben 96 Prozent der Kommunen an, dass sie die Finanzierung der Altenpflegedienste im Jahr 2020 kürzen wollen. Sparmaßnahmen und Kürzungen im öffentlichen Sektor sind in Schweden bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten eine Realität.
Dies führt uns zu der wirtschaftlichen Debatte im Zuge der Pandemie. Die sozialdemokratische Finanzministerin Magdalena Andersson hat sich bis zur Krise strikt an die orthodoxen Haushaltsregeln Schwedens gehalten und sich vor allem darauf konzentriert, die öffentlichen Schulden zu tilgen und niedrig zu halten. Ende 2019 lag der schwedische Maastricht-Schuldenstand unter 35 Prozent des BIP. Darüber hinaus plante die sozialdemokratisch-grüne Regierung, die Schulden bis 2022 auf unter 30 Prozent zu senken.
Corona legt Sparsamkeits-Doktrin offen
Linke Teile der Sozialdemokratischen Partei und des Arbeitergewerkschaftsbundes LO stehen dieser straffen Finanzpolitik seit vielen Jahren kritisch gegenüber. Sie hat notwendige gesellschaftliche Investitionen verhindert und aufgrund der steigenden privaten Verschuldung die Anfälligkeit der schwedischen Gesellschaft für eine mögliche Finanz- und Wirtschaftskrise erhöht.
Zu lange hat das Finanzministerium die Öffentlichkeit glauben lassen, dass fiskalische Vorsicht wichtiger sei als öffentliche Investitionen in Wohlfahrt, Wohnungsbau, Infrastruktur, Klimawandel oder die Stärkung des öffentlichen Sektors. Die Covid-19-Pandemie zeigt, wie kurzsichtig der Sparsamkeits-Doktrin für Schweden ist. Mit höheren Steuern für die Wohlhabenden und einer weniger strikten Steuerpolitik hätte die schwedische Gesellschaft über eine größere Kapazität an Intensivbetten, ausreichende Notvorräte an Medikamenten und Schutzausrüstung verfügen können. Es wäre in der Lage gewesen, ältere Menschen durch ein stärkeres Pflegesystem mit mehr qualifizierten Pflegekräften und besseren Arbeitsbedingungen zu schützen.
Aufbau einer solidarischen Gesellschaft
Nichtsdestoweniger verweisen die Befürworter der Sparmaßnahmen auf die fiskalische Macht, die der Staat nun hat, um die Wirtschaft zu stützen und die sozialen Folgen der Pandemie abzuschwächen. Wie bei der Finanzkrise vor mehr als einem Jahrzehnt jedoch wird die Logik hinter der Politik, die für die Sparpolitik zumindest mitverantwortlich ist, nicht allgemein in Frage gestellt. Ihr zufolge müssen öffentliche Investitionen reduziert werden, um wirtschaftliche Puffer zur Bekämpfung der Auswirkungen einer Wirtschaftskrise aufzubauen.
Wenn diese Vorstellung allerdings weiter unangefochten bleibt, wird Schweden wieder zu einer Sparpolitik zurückkehren müssen, die die Gesellschaft weiter schwächt. Diese Logik sollte für jeden fortschrittlichen politischen Akteur inakzeptabel sein, nicht zuletzt für die schwedische Sozialdemokratie. Eine fortschrittliche Wirtschaftspolitik sollte stattdessen das Ziel verfolgen, den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Dazu gehört der Aufbau einer solidarischen Gesellschaft, die widerstandsfähiger gegen die nächste Krise ist.
Aus dem Englischen von Marius Mühlhausen
Dieser Beitrag erschien zuerst im ipg-journal