Warum die EU gegenüber Russland mit einer Stimme sprechen muss
imago images/photothek
Geplant war das so nicht. Eigentlich hätte das Kapitel Russland am zweiten Tag des Treffens im nordfranzösischen Brest längst geschlossen sein sollen. Nach den Vorgaben der just gestarteten französischen Ratspräsidentschaft sollte es bei der der Außen- und Verteidigungsministertagung um mehr Geschlossenheit im gemeinsamen Auftritt gehen, um die Stärkung der europäischen Souveränität. Die EU sollte unter anderem Litauen im Streit mit China beistehen und Unterstützung geben. Nun schrillten alle Alarmglocken. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell berief eine Dringlichkeitssitzung des Politischen und Sicherheitskomitees ein.
Am Montag hatte ein Hackerangriff die Webseiten ukrainischer Behörden lahmgelegt. Die große Frage ist, wer der Urheber der Cyberattacke gewesen ist. Steckt wirklich Moskau hinter dem virtuellen Angriff? „Es ist nicht leicht zu beantworten“, gab Borrell zu. „Ich habe keine Beweise. Also kann ich nicht sagen, wer verantwortlich ist. Aber man kann es sich vorstellen.“
Krisengespräche brachten keinen Durchbruch
Reichlich dünne Suppe also. Es ist zum Glück eher selten, dass individuelle Vorstellungskraft zur Maxime politischen Handelns erhoben wird. Es sei denn, es geht um Russland. Der Cyberangriff erfolgt vor dem Hintergrund sich weiter verschärfender Spannungen zwischen Russland und dem Westen und eines massiven russischen Truppenaufmarschs an der Grenze zur Ukraine. Krisengespräche brachten in den Tagen davor keinen Durchbruch. Russlands Vize-Außenminister Sergej Rjabkow hatte am Donnerstag nach den Gesprächsrunden mit westlichen Staaten vor einer Sackgasse gewarnt. Russland werde nun „andere Maßnahmen und Techniken“ im Verhältnis zum Westen anwenden, weil die US-Regierung und deren Verbündete den Forderungen nach Sicherheitsgarantien Russlands nicht nachkommen wollten.
An den Verhandlungen beteiligte Diplomaten äußerten ihre Sorgen, waren aber ungewöhnlich wenig enttäuscht. Das könnte daran liegen, dass die Gespräche zwar ohne konkreten Beschluss endeten, aber weit davon entfernt waren, als Misserfolg bewertet zu werden. Denn anders als befürchtet, wurden sie nicht schon nach kürzester Zeit ergebnislos abgebrochen, sondern dauerten länger als geplant. Russlands Vize-Außenminister Sergej Rjabkow bezeichnete sie als „professionell, tiefgreifend und konkret“ (…) und ohne Versuche, „etwas zu beschönigen oder um den heißen Brei herumzureden“. Und sein Chef Sergej Lawrow, nicht eben im Ruf ein Kuschelbär zu sein, nannte die Gespräche öffentlich ein positives Signal.
Es geht um Vertrauen
Russlands Präsident Wladimir Putin hat immer betont, es werde keinen russischen Einmarsch in die Ukraine geben. Aus ihrer Sicht hatte die russische Seite „lediglich“ deutlich gemacht, weitere Osterweiterungen der NATO nicht akzeptieren zu können. Nun taugt Putins Russland wahrlich nicht zur Blaupause eines Friedensengels, aber auch die NATO kann nicht von sich behaupten, die eigenen Zusagen an die Adresse Russlands immer eingehalten zu haben. Unbestreitbar ist sie Russland näher gerückt. Wer von der anderen Seite Vertrauen erwartet und fordert, sollte seinerseits möglichst wenig tun, um das Vertrauen der anderen Seite zu untergraben und stattdessen Interesse an vertrauensbildenden Maßnahmen haben. Dazu gehören Gesprächsbereitschaft und bisweilen auch Druck.
Das gilt für Politik, wie für Medien. Wer die Berichterstattung eines bekannten Hamburger Nachrichtenmagazins der vergangenen Tage verfolgt, der muss zu dem Schluss kommen, das man an den dortigen Redaktionstischen nicht mehr daran glaubt, auch den 76. Geburtstag noch feiern zu können: Derartig massiv wird eine russische Bedrohung auf allen Ebenen herbeigeschrieben. Man könnte glauben, der dritte Weltkrieg stehe unmittelbar bevor. Russland, heißt es dort, bereite Angriffe an mehreren Fronten auch auf NATO-Staaten vor und im NATO-Hauptquartier schwinde die Hoffnung, Russland von einem Überfall auf die Ukraine abhalten zu können. Man findet sicherlich für jeden Unsinn jemanden, der ihn auch tatsächlich so äußert – gerade unter Hardlinern auf beiden Seiten. Aber kluge Politik richtet sich nicht daran aus.
Denn trotz der beidseitig heftig aufgeladenen Rhetorik: Am Ende der Verhandlungswoche gibt es durchaus berechtigte Hoffnung, dass sie nur der Auftakt für weitere diplomatische Bemühungen um mehr Sicherheit und Frieden in Europa war. Europa sitzt dabei auch nicht am Katzentisch, wie so mancher befürchtet. Es wäre allerdings hilfreich, wenn es sich auf gemeinsame Positionen einigt. Je schneller und je klarer, desto besser. Um Ernst genommen zu werden, muss man auch ernsthaft sein.