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Warum der Türkei jetzt EU-Sanktionen drohen

Diese Woche werden die EU-Staats- und Regierungschefs Sanktionen gegen die Türkei prüfen. Außenminister Heiko Maas zeigt sich im Vorfeld enttäuscht über die mangelnde Dialogbereitschaft Ankaras. Die Reform-Versprechen Erdogans liefen bisher ins Leere.
von Kristina Karasu · 9. Dezember 2020
Der türkische Präsident droht der EU am 5. November 2019 mit einer neuen Flüchtlingswelle, sollten seine Forderungen von Brüssel nicht erfüllt werden.
Der türkische Präsident droht der EU am 5. November 2019 mit einer neuen Flüchtlingswelle, sollten seine Forderungen von Brüssel nicht erfüllt werden.

Streitpunkte gibt es viele zwischen der Türkei und der EU in diesem Jahr: angefangen Ende Februar, als Erdogan seine Grenze zu Griechenland für Flüchtlinge öffnete, im Juli mit der Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee und den Sommer über mit türkischen Erdgasbohrungen im Mittelmeer, die Griechenland als Verletzung seiner eigenen Seegrenzen betrachtet. Als „Krönung“ plädierte der türkische Präsident im Herbst auch noch für eine Zweistaatenlösung auf Zypern. All diese Punkte strapazierten vor allem die griechisch-türkischen Beziehungen. Nebenbei missfällt der EU, wie kräftig Erdogan in Syrien und Libyen militärisch mitmischt.

EU sieht „einseitige Akte und feindselige Rhetorik“ Ankaras

Nun soll abgerechnet werden, beim EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag wollen die Staats- und Regierungschefs Sanktionen gegen die Türkei prüfen, im Fokus steht dabei der Mittelmeerstreit und Zypern. Sanktionen wollte die EU schon im Oktober verhängen. Brüssel gab dann der Türkei aber zwei Monate Zeit, um die Beziehungen neu auszurichten.

Die Bilanz, die jetzt in Brüssel gezogen wird, ist ernüchternd. „Es ist nun Zeit, das Katz- und Mausspiel zu beenden“, sagte EU-Ratspräsident Charles Michel vergangene Woche. Von der Türkei gebe es weiter „einseitige Akte und feindselige Rhetorik“, die EU sei nun „bereit, die Mittel zu nutzen, über die wir verfügen“.

Heiko Maas: Bemühungen Berlins wurden enttäuscht

Auch Bundesaußenminister Heiko Maas zeigte sich am Montag in Brüssel enttäuscht: „Gerade Deutschland hat sich in den letzten Wochen sehr viel Arbeit gemacht, um Kompromisse zu erzielen – auch zwischen der Türkei, Griechenland und Zypern“, erklärte er. „Das ist bedauerlicherweise nicht gelungen.“

Erdogan sendete in den letzten Wochen höchst widersprüchliche Signale Richtung EU. Noch Ende November verkündete er, die Türkei sehe sich „nirgendwo anders als in Europa“. Jedes Thema lasse sich mit Diplomatie und Dialog lösen. Dann wieder pöbelte er gegen Macron, nannte ihn „schlecht für Frankreich“. Am Montag schließlich erklärte er, dass die Türkei sich weder Drohungen noch Erpressungen beugen werde. Während Erdogans sanfte Töne Brüssel besänftigen sollen, sind seine harten Töne an seine nationalistisch gesinnten Wähler adressiert. In diesem Spannungsfeld versucht er, beide Seiten zu bedienen.

Erdogan punktet mit Provokationen bei den Türken

Außenpolitische Provokationen haben Erdogan immer wieder geholfen, von innenpolitischen Krisen abzulenken. Zudem trifft er damit oft einen Nerv vieler Türken. Etwa beim Streit um Seegrenzen im Mittelmeer. Auch viele Türken denken, dass Griechenland übertreibe, wenn es um seine winzigen Inseln herum ein riesiges Seegebiet für sich beanspruche, wodurch das Hoheitsgebiet der Türkei mit seiner über 8000 Kilometer langen Küste erheblich schrumpft.

Hier brauche es statt einer Muskelschau allerdings „diplomatische Aggressivität“, plädiert der türkische Ex-Diplomat Oguz Demiralp auf dem regierungskritischen Portal T24. Die Türkei müsse in Europa unermüdlich ihren Standpunkt erklären, bis sie Verbündete gefunden habe. Das sei das beste Mittel gegen die Maximalforderungen Griechenlands.

Wie hart werden die EU-Sanktionen sein?

Gute Beziehungen zur EU hat die Türkei bitter nötig. Eine Erweiterung der Zollunionen etwa, die dem Land im Zuge des Flüchtlingsdeals in Aussicht gestellt wurde, wäre für Erdogan Gold wert. Seit zweieinhalb Jahren ächzt das Land unter einer Wirtschaftskrise und dem Kursverfall der türkischen Lira. Dazu kommt die Corona-Pandemie, die die Türkei kaum noch unter Kontrolle hat. Die wirtschaftlichen Konsequenzen von Sanktionen könnte das Land nur schwer verkraften. Türkische Analysten hoffen nun, dass die Sanktionen der EU milde ausfallen und nur einzelne Sektoren oder Personen treffen. Dass es welche geben wird, daran zweifelt kaum noch jemand.

Derweil zeigt Erdogans Kabinett immer mehr Risse. Sein eigener Schwiegersohn Berat Albayrak, oft als Erdogans Nachfolger gehandelt, erklärte Anfang November seinen Rücktritt als Finanzminister – per Instagram. Für die an Überraschungen nicht arme türkische Politik ein Supergau. Erst hüllte sich Erdogan in Schweigen, dann nahm er das Rücktrittsgesuch an. Obendrein versprach er seinen Bürgern Reformen in Justiz und Wirtschaft.

Wachsende Risse in Erdogans Regierungslager

Türkische Oppositionelle hofften, dass politische Gefangene von Erdogans Reformeifer profitieren könnten. Tatsächlich plädierte postum der langjährige Erdogan-Wegbegleiter und AKP-Mitgründer Bülent Arinc in einer Talkshow dafür, den kurdischen Politiker Selahattin Demirtas sowie den Kulturmäzen Osman Kavala aus ihrer langjährigen Haft zu entlassen.

Erdogan schwieg zunächst auch dazu. Sein Bündnispartner, die ultrarechte MHP dagegen schäumte. Schließlich lenkte Erdogan ein, wetterte gegen seinen eigenen Parteikollegen Arinc und betonte, dass man sich „Terroristen“ niemals beugen würde. Schwer enttäuscht erklärte Arinc seinen Rücktritt als präsidialer Berater.

Druck auf Ankara auch aus Washington

Erdogan hat sich den Wünschen der nationalistischen MHP gebeugt, nicht zum ersten Mal. Die MHP bestimmt – das wird in Europa oft übersehen – indirekt den Kurs der türkischen Politik massiv mit. Liberale Reformen oder ein neuer Friedensprozess mit den Kurden scheinen kaum möglich, solange Erdogan auf die Unterstützung der Ultrarechten angewiesen ist. Sehr zum Unmut moderater Stimmen innerhalb der AKP, wie es hinter den Kulissen in Ankara heißt.

Auch der US-Senat entscheidet in dieser Woche über Sanktionen gegen das NATO-Land Türkei, verurteilt Ankaras Kauf eines russischen Raketenabwehrsystems. Auch von dort fürchtet die Türkei großen Druck. Für die EU die Chance, Ankara klarzumachen, dass Dialog erwünscht ist – aber ohne Reformen Partnerschaft auf Augenhöhe unmöglich ist.

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Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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