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Warum der doppelte EU-Parlamentssitz für neuen Ärger sorgt

In der Corona-Krise verzichtet das EU-Parlament darauf, neben Brüssel seinen zweiten Sitz in Straßburg zu nutzen. Viele Abgeordnete hofften auf ein Ende des Wanderzirkusses. Doch sie haben ihre Rechnung ohne Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron gemacht.
von Kay Walter · 7. Januar 2021
Stein des Anstoßes: Der Sitz des EU-Parlamentes in Straßburg
Stein des Anstoßes: Der Sitz des EU-Parlamentes in Straßburg

Seit Beginn der Corona Pandemie tagte das Europäische Parlament ausschließlich in Brüssel, der Parlamentssitz in Straßburg blieb verwaist. Das hat die französische Politik auf den Plan gerufen. Bekommt die alte Debatte über die Parallelstruktur mit zwei Parlamentssitzen neuen Aufwind?

Hohe Kosten für Umwelt und Budget

Brüssel-Straßburg, das sind rund 450 Kilometer reale Fahrstrecke, ein Kulissenwechsel, den das Europaparlament monatlich zu bewältigen hat. Die Abgeordneten selbst reisen meist aus ihren Heimatorten an, aber ein Tross aus Sonderzügen, Transportern und PKWs transportiert Unmengen Akten und Computer, Parlamentsmitarbeiter und Journalisten von A nach B. Mehrere Tausend Menschen müssen sich einmal im Monat auf den Weg von Brüssel nach Straßburg machen. Und natürlich auch wieder zurück. Klimaschützer rechnen mit circa 20.000 Tonnen CO2 pro Jahr, die das Parlament mit seinen Umzügen verantwortet. Dazu kosten die Doppelstrukturen die Kleinigkeit von 100 Millionen Euro - auch kein Pappenstiel.

Die Kritik daran ist alt: Lästig, viel zu teuer, ökologischer Blödsinn, Zeitverschwendung usw. Und um Vorurteilen gleich entgegenzutreten, fast alle Parlamentarier teilen sie. Warum wird der doppelte Sitz des EU-Parlamentes nicht aufgegeben?

Die EU-Verträge und das Elsass-Problem

Da sind zunächst die Verträge, die zwei Parlamentsstandorte mit Straßburg als Hauptsitz vorsehen. Durchaus mit Gründen: So mancher findet, es würde schon jetzt zu viel nationale Souveränität an die EU verlagert und befürchtet daher, mit dem Parlament nur in Brüssel würde dort zu viel Macht konzentriert. Denn dort findet die überwiegende Arbeit der Ausschüsse statt. Wichtig ist auch der symbolische Wert: Das Elsass und Straßburg waren zwischen Deutschland und Frankreich immer umkämpft, weshalb sich hier nach dem Krieg der Europarat ansiedelte.

Nun hat die Corona-Pandemie viele politische Abläufe, Termine und Veranstaltungen ordentlich durcheinandergewirbelt, auch die Sitzungen des Europaparlaments. Als im Frühjahr die Infektionszahlen nach oben schnellten, wurden alle Plenarsitzungen nach Brüssel verlegt. Die Stadt war zwar ebenso schwer betroffen wie Straßburg, aber wenigstens konnte der Reisezirkus unterbleiben. Nach der Sommerpause sollte wieder gependelt werden. Doch wegen der  angespannten Corona-Lage in und um Straßburg herum, tagten die Parlamentarier weiter nur in der belgischen Hauptstadt.

Emmanuel Macron macht Druck

Es grummelte in Frankreich. Präsident Emmanuel Macron forderte den Parlamentspräsidenten auf, nach Straßburg zurückzukommen. Und auch die grüne Bürgermeisterin der Stadt, Jeanne Barseghian erklärte: „Wir haben strenge Hygieneauflagen erlassen, wie es sie kaum anderswo in Europa gibt, sodass die Parlamentssitzung hätten abgehalten werden können.“ 

Und doch: Die Umzüge fielen aus, der Parlamentsbetrieb blieb in Brüssel. Und viele hofften, das leidige Thema könnte sich von selbst und durch die normative Kraft des Faktischen erledigen. Vor allem ohne viel Aufsehen, quasi als Kollateralschaden der Pandemie.

Renovierung oder Neubau in Brüssel?

Doch plötzlich ploppte in den letzten grauen Novembertagen ein ebenfalls altes Thema wieder auf: Der Umbau des Parlamentsgebäudes in Brüssel, der sogenannte „Welle-Plan“. Der CDU Politiker Klaus Welle ist seit 2009 Generalsekretär des Parlaments. Schon vor knapp 4 Jahren hatte sein Kabinett ein Papier erarbeitet, dass sich mit den notwendigen Renovierungsarbeiten am Paul-Henri-Spaak-Bau, dem Brüsseler Parlamentsgebäude befasst. Das ist zwar erst seit 1995 vollständig in Betrieb, aber doch inzwischen schwer renovierungsbedürftig.

Pfusch am Bau ist ein sehr ärgerlicher Grund dafür. Der zweite ist dagegen eine Erfolgsgeschichte: 13 der 27 EU-Staaten sind erst nach Fertigstellung des Parlaments der Union beigetreten! Österreich, Schweden und Finnland 1995, dann 2004 Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Slowakei, Malta und Zypern. So richtig verwunderlich ist es also nicht, dass das Gebäude unterdessen zu klein ist. Auch der Brexit wird das nicht substantiell ändern. Drittens ist der Bau nach heutigen Maßstäben unter anderem nicht genügend gegen einen Terrorangriff geschützt.

Eine neue Chance für Straßburg

Die Beamten von Klaus Welle hatten berechnet, dass ein kompletter Neubau 500 Millionen bis eine Milliarde Euro kosten würde. Die Vorteile eines Neubaus gegenüber Renovierungsarbeiten, die bei laufendem Betrieb nicht billiger würden, erklärte Welle 2017, lägen damit auf der Hand. Der damalige Parlamentspräsident Martin Schulz war "beeindruckt, aber noch nicht überzeugt", und bestellte beim TÜV Süd eine Zweitmeinung. Die kam zum gleichen Ergebnis, sagte aber auch, es gebe deutlich günstigere Lösungen. Vor allem die Sicherheitsprobleme ließen sich, ohne Schönheitsreparaturen und Anbauten, für nur 30 Millionen Euro beseitigen. Sache erledigt.

Doch genau diese alte Kamelle wird nun wieder aufgewärmt. Bürgermeisterin Jeanne Barseghian und der Regionalpräfekt schrieben gemeinsam mit anderen Regionalpolitikern am 24.11. 2020 einen entrüsteten Brief an EU-Parlamentspräsident David Sassoli wie verwundert sie darüber seien, dass geplant werde, in Brüssel Unsummen für einen Neubau zu verschwenden, wo doch in Straßburg in funktionstüchtiger Bau stünde. So geht Spin – Thema umgedreht! Das Problem ist plötzlich nicht mehr die Reiserei nach Straßburg, sondern die Bauarbeiten in Brüssel.

Effizienz statt Verschwendung

Ein Parlament sollte im Sinne der Bürger, die es vertritt möglichst effektiv arbeiten. Es sollte so wenig Zeit mit unnötigen Aufwand verbringen, wie es irgend geht und dabei auch tunlichst wenig Geld unnütz verschwenden. Ein funktionstüchtiges Arbeits- und Sitzungsgebäude gehört allerdings zur Grundausstattung. Das Louise-Weiss-Gebäude in Straßburg wurde übrigens 1999 neu errichtet.

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Kay Walter

ist freiberuflicher Journalist.

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