Dass es aber zunächst nicht zu Verhältnissen wie in Norditalien oder Spanien gekommen ist, liegt am rigorosen, restriktiven und repressiven Handeln der Regierungen in der Region. Zum einen war den Verantwortlichen wohl klar, dass nur ein frühzeitiges, drastisches Durchgreifen das Gesundheitssystem vor dem Kollaps schützen und die Menschen zum Einhalten von mit harten Strafen belegten Regeln zwingen kann. Andererseits brachen sich dabei offenbar auch die autoritären Phantasien der Machthaber Bahn, die von transparenten Verfahren und Stärkung der Eigenverantwortung wenig halten, sondern nach vollständiger Kontrolle der Verhältnisse und repressiven Maßnahmen streben. Statt auf Aufklärung, Verhaltensänderung, die Nachverfolgung von Infektionsfällen und Isolation von Infizierten zu setzen, wurde sehr schnell mit der härtesten aller Maßnahmen agiert: dem Lockdown.

Feste und Feiertage ohne „Social Distancing“

Viel zu wenig wurde an das Verantwortungsgefühl der Bürger appelliert, sich selbst und andere zu schützen. Kaum gingen die Infektionszahlen Anfang Mai zurück, wurden die restriktiven Maßnahmen zurückgefahren. Es stellt sich bei der bislang eingesperrten Bevölkerung das Gefühl ein, nun sei alles wieder vorbei und vergessen. Nicht nur Cafés und Restaurants könnten wieder öffnen, sondern auch das Nachtleben, Familienfeste und Sportveranstaltungen seien nun freigegeben. Das orthodoxe Osterfest und das islamische Fastenbrechen Bayram gaben Anlass zu religiösen und familiären Feiern, deren Traditionen kein „Social Distancing“ vorsehen.

Der Wiederanstieg der Infektionszahlen gab dann auch schnell Anlass, sich entlang der tief eingegrabenen Bruchlinien in den Gesellschaften gegenseitig zu beschuldigen. Diese Konfrontationslinien verlaufen in Südosteuropa seit jeher entlang religiöser und ethnischer Grenzen und werden nationalistisch ausgeschlachtet. So warfen sich die Gemeinschaften in Nordmazedonien gegenseitig vor, an dem besorgniserregenden Anstieg der Infektionszahlen Anfang Juni schuldig zu sein.

Das orthodoxe Osterfest wird in der Region mit der schönen Tradition gefeiert, dass alle Gläubigen die Kommunion mit demselben Löffel, den der Priester bereithält, einnehmen – was den Zusammenhalt der Gemeinde zwar stärken mag, unter epidemiologischer Sicht in diesem Jahr jedoch wenig hilfreich war. Große Familienfeste zum Fastenbrechen zu Ramadan, das Bayram-Fest, und die Versammlung der Großfamilien zum orthodoxen Allerheiligen-Fest auf dem Friedhof stellten ebenfalls mögliche Katalysatoren zur Verbreitung des Corona-Virus dar.

Spaltung entlang Religion, Ethnie und Partei

Diese gesellschaftlichen Spaltungen entlang ethnischer und religiöser Abgrenzungen übersetzen sich in Südosteuropa auch in das Parteienspektrum. Die politischen Akteure stehen sich deshalb häufig nicht als Wettbewerber, sondern als Feinde gegenüber, die sich gegenseitig als Verräter und Verbrecher bezichtigen. Diese toxische Polarisierung verhindert die Suche nach Kompromissen und das Funktionieren von Checks und Balances; denn die Macht darf, aus der Sicht der jeweiligen Regierenden, nicht in die Hände der Volksfeinde fallen – zu diesem Zweck scheint dann jedes Mittel recht.

Die Parlamentswahlen in Serbien konnten wegen der Pandemie nicht wie geplant im April stattfinden und wurden, nachdem Anfang Mai leichte Entspannung eintrat, in aller Eile auf den 21. Juni verlegt.  Die Regierung wollte sich offenbar für das erfolgreiche Krisenmanagement belohnen lassen und zum Urnengang rufen, bevor die ökonomischen Bremsspuren der Krise allzu deutlich spürbar werden. Während sich die Opposition aufgrund der Aushöhlung der demokratischen Institutionen und Kontrolle der Medien durch den Parteiapparat des Präsidenten Aleksander Vucic für einen Boykott der Wahlen entschieden hatte, konnte dessen Fortschrittspartei SNS einen gewissermaßen „totalen“ Sieg einfahren. Zählt man die Mandate der bisherigen Koalitionspartner zusammen, kommen sie auf eine unglaubliche Zahl von 93 Prozent der Sitze im neuen Parlament, – in dem eine kritische demokratische Opposition gar nicht mehr vertreten ist. Die Wahlbeteiligung lag dabei unter der 50 Prozent-Marke.

Vielleicht war dieser überbordende Sieg nun doch etwas zu viel des Guten. Zum sichtbaren Erfolg der Krisenbewältigung für Wahlkampfzwecke gehörte in Serbien auch, dass die Fußball-Fans – und Hooligans – der beiden rivalisierenden Belgrader Klubs „Roter Stern“ und „Partizan“ das Lokalderby ihrer Klubs auf vollbesetzter Tribüne mitverfolgen konnten. Zudem durfte der Nationalheld und Weltranglisten-Erste Novak Djkovic ein internationales Tennisturnier vor Publikum präsentieren – wenig später wurde er dann selbst positiv getestet.

Schwindendes Vertrauen nach Manipulations-Vorwürfen

Kurz nach dem Wahltag wurde durch das Recherche-Netzwerk BIRN bekannt, dass die Corona-Statistiken in Serbien offenbar manipuliert worden waren; es gab wohl mehr Tote als bislang kommuniziert worden war. Eine Bereinigung der Statistik am 6. Juni um 4 000 aktive Fälle scheint in diesem Licht ebenfalls zweifelhaft. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Schutzmaßnahmen, die Kommunikationspolitik der Regierung und die Unabhängigkeit der Verwaltung ist nach diesen Ereignissen völlig eingebrochen. Der Eine mag die Augen vor der ganzen Misere verschließen, die Andere daran glauben, es sei alles noch viel Schlimmer als befürchtet; und Dritte packt offenbar der Zorn.

Nach der Ankündigung des Staatspräsidenten Aleksander Vucic am 7. Juli, dass die Verschlechterung der Gesundheitslage es erforderlich mache, das Land wieder in den Lockdown zu führen, trafen sich spontan mehrere Tausend junge Menschen, meist Studierende und Aktivisten, vor dem Parlamentsgebäude in der serbischen Hauptstadt Belgrad. Die Protestierenden sind ein wilder Mix aus allen politischen Schattierungen, darunter auch nationalistische Quertreiber. Es eint sie, dass sie die angekündigte Ausgangssperre vom Freitagabend bis Montag früh für überzogen halten. In einer trotzigen Haltung des Widerstands dagegen und einer tiefsitzenden Frustration über die Gängelung und Irreführung der Regierung machten sie ihrem Unmut Luft. Früh am Abend gelang es ihnen, in das zu diesem Zeitpunkt kaum bewachte Parlamentsgebäude einzudringen, bevor dann die Staatsmacht in Mannschaftsstärke anrückte. Gegen die Einsatzkräfte der Polizei konnten sie kaum etwas ausrichten, zumal diese mit brutaler Härte einschritt. Dabei wurden auch offensichtlich friedlich Demonstrierende verprügelt.

Gewaltsamer Protest gegen zweiten Lockdown

Während die Polizei den Vorplatz des Parlaments in eine Tränengaswolke hüllte, wurden von den Demonstranten Müllcontainer angezündet. Am folgenden Abend des 8. Juli wiederholte sich das Schauspiel. Diesmal war die Staatsmacht jedoch gleich von Anfang an mit geschlossenen Reihen, berittener Polizei, Mannschaftswagen und einem klaren Plan der Räumung und Vertreibung der Protestierenden am Platz. Obwohl noch mehr Demonstranten erschienen waren, wurde unmissverständlich klar gemacht, wer die Straßen in Belgrad beherrscht. Das martialische Auftreten der Polizei und ihr überzogenes, gewaltsames Durchgreifen gegen die Protestierenden ist ein deutliches Zeichen für den zunehmenden Autoritarismus und Mangel an Transparenz und Rechtsstaatlichkeit in Serbien.

Während die serbische Regierung nun zurückrudert und die angekündigten drastischen Maßnahmen relativiert, breitet sich das Virus weiter aus. Es steht zu befürchten, dass die Kapazitätsgrenze der fragilen Gesundheitssysteme der Balkanstaaten einem weiteren Anstieg kaum standhalten wird. Hilfslieferungen von Masken und medizinischem Gerät sind dabei sicher hilfreich und willkommen. Das Problem liegt aber im Management der Krise. Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten müssen dabei auf eklatante Fehlentwicklungen in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – wie in Serbien – ebenso klar hinweisen, wie sie in der epidemiologischen Bewältigung der Krise mit Beratungsleistung und Hilfslieferungen unterstützen sollten. Der EU-Beitrittsprozess, in dem Serbien und Montenegro bereits fortgeschritten sind, und der für Nordmazedonien und Albanien nun beginnt, bietet den Rahmen, nicht nur kurzfristig zu helfen, sondern langfristig die Stärkung von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Verantwortungsbewusstsein einzufordern.

Dieser Artikel erschien zuerst im IPG-Journal.