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Warum das Kalkül der Türkei in Syrien gescheitert ist

Der türkische Präsident hat sich beim Einsatz in Nordsyrien massiv verschätzt. Bleibt ihm jetzt nur die Wiederannäherung an den Westen? Eine Analyse von Ilhan Uzgel, Professor für Internationale Beziehungen.
von Ilhan Uzgel · 17. März 2020
Ruinen in Idlib: Die Staat ist die letzte Rebellen-Hochburg in Syrien.
Ruinen in Idlib: Die Staat ist die letzte Rebellen-Hochburg in Syrien.

Idlib, eine kleine, aber überbevölkerte Stadt im Nordwesten von Syrien, die den Menschen in der Türkei bislang unbekannt war, spielt jetzt in der türkischen Außen- und Sicherheitspolitik eine zentrale Rolle. Die Türkei will verhindern, dass die syrische Armee Idlib zurückerobert. Dies hat zu einer schweren Krise geführt, an der auch Russland, die NATO, die USA und die EU beteiligt sind.

Nach dem Sieg über den Islamischen Staat rückten die syrischen Streitkräfte unter Assad nach Idlib vor, das die letzte islamistische Bastion im Land darstellt. Daraufhin schaltete sich die Türkei diplomatisch ein und schloss im September 2018 in Sotschi ein Abkommen mit Russland. Sie übernahm die Aufgabe, diese militanten Gruppen zu entwaffnen, eine Deeskalationszone einzurichten und Beobachtungsposten aufzustellen, um den Prozess der Deeskalation zu überwachen.

Türkische Truppen in Syrien umzingelt

Hayat Tahrir al Sham, die größte dschihadistische Gruppe, weigerte sich allerdings, sich entwaffnen zu lassen, und nahm – gemeinsam mit anderen kleinen radikalen Gruppen – weiterhin syrische Armeeposten und die nahe gelegene russische Hymeymim-Militärbasis unter Beschuss. Als die syrische Armee erkannte, dass sich die Türkei nicht an das Sotschi-Abkommen halten würde, rückte sie im August 2019 in das Umfeld der Stadt vor und besetzte wichtige Städte rund um Idlib. Dabei wurde sie von russischen Kampfflugzeugen aus der Luft unterstützt.

Trotz der Warnungen und militärischen Fortschritte Syriens und Russlands begann die Türkei nun, ihre militärische Präsenz in der Gegend zu verstärken. Die syrisch-russische Strategie bestand darin, die Stadt zu belagern und die zwölf Militärposten der türkischen Armee zu umzingeln (momentan sind sieben von ihnen von Assads Streitkräften umstellt). Die massiven Angriffe trafen vor allem die Zivilbevölkerung und lösten eine Flüchtlingswelle aus. So flohen eine Million Syrer zur türkischen Grenze, was eine weitere humanitäre Krise zur Folge hatte.

Die Lage verschärfte sich, als Anfang Februar durch den syrischen Beschuss acht türkische Soldaten getötet wurden. Erdogan reagierte darauf, indem er Syrien ein Ultimatum stellte: Zögen sich Assads Truppen nicht von der in Sotschi beschlossenen Demarkationslinie zurück, würde die Türkei dies militärisch erzwingen. So wurde der Konflikt, den die Türkei eigentlich zu deeskalieren versprach, weiter angefacht.

Eskalation statt Deeskalation

Außerdem verstärkte die Türkei ihre militärische Präsenz, indem sie Hunderte Panzer und bewaffnete Fahrzeuge sowie Tausende von Soldaten in die Region sandte. Die russische Reaktion darauf war sogar noch stärker: Die syrisch-russischen Flugzeuge griffen einen türkischen Militärkonvoi an und töteten 33 Soldaten. Das Bombardement hielt etwa fünf Stunden an, um so viel Schaden wie möglich anzurichten – offensichtlich, um damit auf Erdogans Herausforderung zu reagieren.

Dass die türkische Regierung – ohne Unterstützung aus der Luft – so viele Truppen in ein Kriegsgebiet sandte, in dem sie bereits angegriffen wurde, war offensichtlich ein massiver Fehler. Und dass die Türkei dann als Vergeltung syrische Militärposten, Raketenstellungen und Tanker bombardierte sowie drei Kampfflugzeuge abschoss, hat den syrischen Bürgerkrieg nun in einen konventionellen zwischenstaatlichen Krieg verwandelt. Nach neun Jahren war die Türkei mit ihrer „Operation Frühlingsschild“ nun in direkte Zusammenstöße mit Syrien, Russland und dem Iran verwickelt.

Es ist offensichtlich, dass Russland an der Tötung türkischer Soldaten beteiligt war, aber die Türkei verzichtete auf Schuldzuweisungen. Aus Angst vor weiteren Kampfhandlungen konnte das türkische Militär keine Vergeltung gegen die russischen Streitkräfte und Einrichtungen in Syrien üben, sondern griff stattdessen die syrische Armee an. Dabei setzte sie auch verstärkt unbemannte Flugobjekte ein und eröffnete so den Drohnenkrieg.

Diplomatie nicht auf Augenhöhe

An der diplomatischen Front lief es noch schlechter als vor Ort. Erdogan bat dringend um ein Treffen mit Putin. Daraus wurde eine lange Begegnung, die mit einem Abkommen endete. So stimmte die Türkei der Eröffnung der Autobahn M4 von Aleppo nach Latakia zu. Das zwölf Kilometer breite Gebiet soll nun von gemeinsamen russisch-türkischen Patrouillen überwacht werden.

Dass die Erdogan-Regierung beim Versuch, Idlib unter ihre Kontrolle zu bringen, eine Auseinandersetzung mit Russland riskierte, ist schwer verständlich. Bevor die Krise eskalierte, erklärten Erdogan und die regierungstreuen Medien, die Türkei werde vom Kampf gegen den Terrorismus zur Bodenkontrolle syrischer Gebiete übergehen. Der Kampf um Idlib zeigt, dass diese Strategie ohne russische Zustimmung schwer aufrechtzuerhalten war und erhebliche Verluste bereitete.

Außerdem hat sich die Schlacht um Idlib zu einem entscheidenden Meilenstein der türkischen Außen- und Sicherheitspolitik entwickelt: Nachdem Erdogan seine politischen und militärischen Ziele in Idlib nicht erreichen konnte, wandte er sich an seinen traditionellen Verbündeten USA und erinnerte daran, dass die Türkei Mitglied der NATO sei. Außer mündlichen Zusagen, die Allianz sei mit ihrem türkischen Mitglied uneingeschränkt solidarisch, ergab Erdogans Besuch im NATO-Hauptquartier allerdings keine konkreten Ergebnisse. Er forderte die Möglichkeit, Patriot-Luftabwehrraketen zu kaufen, aber das wurde davon abhängig gemacht, dass die Türkei ihre S-400-Raketen aus russischer Produktion, die im April einsatzfähig sein sollten, außer Betrieb setzt.

Idlib Endpunkt der russisch-türkischen Zusammenarbeit

Dies war ein weiterer diplomatischer Tiefschlag für die Erdogan-Regierung. Ihre Politik, die Bindung zum Westen durch engere Beziehungen zu Russland auszugleichen, ist an der Front von Idlib gescheitert. Und auch ihr Versuch, die russischen Beziehungen mithilfe der Unterstützung der NATO und der USA auszubalancieren, ist fehlgeschlagen. Die Entwicklungen in Idlib haben die Grenzen einer Zusammenarbeit mit Russland in Syrien aufgezeigt. So musste die Erdogan-Regierung die bittere Lektion lernen, dass eine Politik des Machtgleichgewichts nur so lange funktioniert, wie die Mächte, die das Gleichgewicht gewähren sollen, dabei mitspielen.

In seiner Verzweiflung spielt Erdogan nun die Flüchtlingskarte gegen die EU aus, um sein Problem zu internationalisieren. Aber auch sein Versuch, die Grenze zu Griechenland zu öffnen, die Flüchtlinge dorthin zu schicken und die EU zur Aufgabe des Flüchtlingsabkommens von 2016 zu zwingen, ist gescheitert. Sein Treffen mit dem Rat und der Kommission der EU in Brüssel war fruchtlos: Die EU weigerte sich nicht nur, ein neues Abkommen zu schließen, sondern auch, die Flüchtlinge an der türkischen Grenze nahe Idlib finanziell zu unterstützen.

Als die Türkei ihre Grenzen öffnete, wurden sie auf der griechischen Seite geschlossen. Obwohl es die Flüchtlinge waren, die den Preis dafür bezahlen mussten, wurde Erdogans Strategie der Erpressung der EU, die er bereits eine ganze Weile verfolgt, durch die Abschottung Griechenlands bedeutungslos – da die EU eindeutig erklärte, den Missbrauch von Migranten als Verhandlungsmasse abzulehnen. Dies war ein weiterer Rückschlag für die Erdogan-Regierung. All die Instrumente, die sie des öfteren effektiv nutzen konnte – wie die starke Armee, ihre High-Tech-Drohnen, den politischen Balanceakt zwischen den Großmächten und schließlich den unethischen Einsatz von Flüchtlingen – sind damit gescheitert.

Wieder Annäherung an die USA?

Die Idlib-Krise markiert das Ende der Politik des Machtgleichgewichts und begrenzt die Fähigkeit der Erdogan-Regierung, die Großmächte gegeneinander auszuspielen. Dies hat unter anderem den Effekt, dass die nationalistische Koalition nun dazu gezwungen ist, die Verlässlichkeit Russlands als Partner infrage zu stellen – aufgrund des rücksichtslosen russischen Vorgehens in Idlib und der daraus folgenden diplomatischen Demütigung der Türkei.

Außerdem haben die Entwicklungen den türkischen Eurasien-Befürwortern, die mit den USA und der NATO brechen wollen und eine Verbindung zu Russland, China und dem Iran anstreben, einen erheblichen Schlag versetzt und ihre Position untergraben. Profitieren konnte davon eine starke proamerikanische Gruppe innerhalb der Erdogan-Regierung, die die Außenpolitik auf die USA ausrichten will, eine kriegstreiberische Position in Syrien vertritt und eine weitere Auflösung der Beziehungen zu Russland verlangt.

Dieser Artikel erschien zuerst im IPG-Journal.

Autor*in
Ilhan Uzgel

Ilhan Uzgel ist Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Ankara.

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