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Warum das Corona-Virus Belgien besonders hart trifft

In Belgien explodiert die Zahl der Corona-Patienten und -Toten. Die Regierung reagiert mit einem harten Lockdown und der Einführung einer Vermögenssteuer. Es ist die letzte Chance, den Kollaps des Gesundheitssystem zu verhindern.
von Kay Walter · 7. November 2020
Letzte Chance Lockdown: in Belgien steigt die Zahl der Corona-Patienten und -Toten seit Wochen rasant.
Letzte Chance Lockdown: in Belgien steigt die Zahl der Corona-Patienten und -Toten seit Wochen rasant.

Es hört nicht auf! So der vorherrschende Eindruck in allen belgischen Krankenhäuser während der letzten Wochen. Es hört einfach nicht auf! Stündlich wurden neue Patienten eingeliefert, in alle Kliniken des Landes. Der Spitzenwert an Neuinfektionen an einem einzigen Tag lag am 27. Oktober bei 22.161. Seitdem sinken die Zahlen zum Glück leicht. Das gilt aber nur für die Infektionszahlen. Die Zahl derer, die ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen, steigt ebenso weiter an, wie die der Intensivpatienten und der Todesfälle.

1.774,4 Infizierte Personen auf 100.000 Einwohner*innen

Schon Ende Mai, während der ersten Covid-Welle verzeichnete Belgien die zweithöchste Todesrate in Europa. 840 Tote pro eine Millionen Einwohner. Das war damals auch ein statistisches Phänomen, denn die belgischen Behörden zählen auch Verdachtsfälle in der Rubrik „Coronatote“.

Doch was die zweite Welle der Pandemie in Belgien an Schock auslöst, ist europaweit unvergleichlich. Der Inzidenzwert, den das Sciensano-Institut offiziell vermeldet, liegt bei unfassbaren 1.774,4 Infizierten Personen auf 100.000 Einwohner*innen. Mehr als neun mal höher als in Deutschland. Kliniken können nur deshalb den Betrieb weiter aufrechterhalten, weil dort vielfach auch Ärzte und Pfleger zum Dienst antreten, die selbst mit dem Virus infiziert sind.

Kirchen bleiben geöffnet, Gottestdienste sind verboten

Seit dem 2. November gilt nun erneut ein harter Lockdown, den der Regierungschef als „Maßnahme der letzten Chance“ bezeichnete.  Alle Geschäfte müssen schließen, zunächst bis zum 1. Dezember. Bis dahin ist nur das Abholen vorbestellter notwendiger Waren erlaubt oder aber die Lieferung von Lebensmitteln in Haus und Wohnung. Bis zum 13. Dezember darf jede*r Belgier*in nur eine andere, namentlich festgelegte Person pro Woche zu Hause empfangen. Im Freien dürfen sich maximal vier Personen mit Abstand und Maske treffen, egal zu welcher Aktivität.

Selbst an Trauungen dürfen nur noch die Ehepartner, die beiden Zeugen und der Standesbeamte teilnehmen. Für Beerdigungen sind 15 Teilnehmer erlaubt – ohne anschließende Zusammenkunft. Kirchen bleiben zum Gebet geöffnet, Gottesdienste sind untersagt.

Die Ferien wurden verlängert. Ab dem 16. November gilt dann: Schüler bis zur 8. Klasse erhalten im Wechsel Präsenz- und Online-Unterricht, höhere Jahrgänge ausschließlich Online-Unterricht. Universitäten lehren komplett online, Ausnahme sind Erstsemester.

Vermögenssteuer zur Finanzierung der Gesundheitskosten

Nur die nächtliche Ausgangssperre ist weiter unterschiedlich geregelt: In Flandern zwischen 0 Uhr und 5 Uhr morgens, in der Wallonie und der Region Brüssel-Hauptstadt zwischen 22 Uhr abends und 6 Uhr morgens. Zur Finanzierung der Gesundheitskosten erhebt die neue belgische Regierung eine Vermögenssteuer in Höhe von 0,15 Prozent für Vermögen über eine Million Euro.

Und damit zu den Ursachen. Warum ist gerade Belgien so sehr betroffen?

Es stimmt, Belgien ist ein Transitland mit 11,5 Millionen Einwohnern. Es ist klein und dabei in großen Bereichen dicht besiedelt. Das begünstigt die Verbreitung des Corona-Virus ungemein. Wichtiger aber ist, dass in den drei Regionen Flandern, Wallonie und Brüssel-Hauptstadt für lange Wochen komplett unterschiedliche Regeln gegolten haben. Und das, obwohl alle Belgier täglich mehrfach die Landesgrenzen überqueren. Die Folge: Gar keine Regel ist wirklich beachtet worden. Klar haben die Menschen auch in Belgien Masken getragen, aber eben so, wie es ihnen persönlich gerade sinnvoll und passend erschien.

Das ist schon deshalb kein Wunder, weil das Land erst am 19. März 2020, ein ganzes Jahr (!) nach der Wahl vom  Mai 2019 eine neue Zentralregierung bekam. Und auch die nur begrenzt auf sechs Monate, eben um die erste Welle der Pandemie zu bewältigen.

Die Ökonomisierung der Daseinsvorsorge rächt sich

Am 1. Oktober 2020 – 493 Tage nach der Wahl  – wurde endlich die Regierung von Alexander De Croo vereidigt. Und die muss jetzt im Eiltempo eine verheerende Krise managen unter Bedingungen, für die sie selbst nichts kann. Als Sofortmaßnahme hat die Regierung das Gesundheitsbudget um 1,2 Milliarden Euro aufgestockt. Nur ein Tropfen auf den heißen Stein, nachdem in den vergangenen zehn Jahren jeweils hunderte Millionen abgezogen wurden.

Auch in Belgien hatten konservative Kreise immer wieder die „viel zu hohen“ Lohnneben- und Gesundheitskosten beklagt und behauptet, auch die Daseinsvorsorge ließe sich ausschließlich ökonomisch regeln. Das rächt sich jetzt. Außer am guten Willen beim medizinischen Personal fehlt es an allen Ecken und Enden.

Am 18. Oktober erklärte der neue Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke, Belgien sei „sehr nahe an einem Tsunami“ und habe „keine Kontrolle darüber, was passiert“. Selbst auf die Frage, ob er eine Implosion, einen Kollaps des Gesundheitssystems, für möglich halte, musste er antworten: „Ja, absolut.“

Man kann nur für ihn und die Menschen in Belgien hoffen, dass der Lockdown Wirkung zeigt, dass langsam nicht nur die Zahl der Neuinfektionen sinkt, sondern dann in der Folge auch die der schweren und tödlichen Verläufe.

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