Warum das Aus des INF-Vertrages für Europa so gefährlich ist
Herr Schmid, seit dem 2. August gilt der INF-Vertrag nicht mehr, einer der weltweit wichtigsten Abrüstungsverträge zwischen Washington und Moskau, von dem unser Kontinent über drei Jahrzehnte profitiert hat. Was bedeutet das Vertragsende für die Sicherheit Europas und Deutschlands?
Das ist ohne Zweifel ein schwerer Rückschlag für unsere Sicherheit. Wir müssen feststellen, dass viele Abrüstungsverträge, die gegen Ende und nach dem Ende des Kalten Krieges Europas Sicherheit gewährleistet haben, inzwischen nicht mehr in Kraft sind. Das hat begonnen mit dem KSE-Vertrag über die konventionellen Streitkräfte und hat jetzt einen Höhepunkt mit dem Ende des INF-Vertrages erreicht. Umso wichtiger ist es, neue Abrüstungsinitiativen zu starten.
Wie alle Nato-Verbündeten teilt auch die Bundesregierung die amerikanische Sicht, dass Russland den INF-Vertrag seit Jahren verletzt, Berlin wollte aber dennoch keine Vertragskündigung. Welche Konsequenzen aus den anhaltenden russischen Vertragsverletzungen wären denn aus deutscher Sicht die richtigen gewesen?
Es wäre besser gewesen, das bestehende INF-Vertragsregime zu nutzen, um Gespräche über die Verifikation der Einhaltung zu führen. Und es wäre wichtig gewesen, den bewährten INF-Vertrag auszudehnen auf neue Atommächte, die massiv landgestützte Mittelstreckenraketen entwickelt und aufgestellt haben, wie beispielsweise China.
Peking hat klar gemacht, es gebe kein Interesse an einer Einbeziehung in den INF-Vertrag.
Das ist richtig. Wir wissen aus den Zeiten des Kalten Krieges, dass das Erzielen von Abrüstungsvereinbarungen ein langer und mühsamer Weg ist. Trotzdem wäre es wichtig gewesen, ein bewährtes Instrument wie den INF-Vertrag möglichst zu bewahren, um dann Anknüpfungspunkte für dessen Weiterentwicklung zu haben und ihn nicht einfach auslaufen zu lassen.
Die Kündigung des Abkommens durch die USA ist innerhalb der Nato umstritten. Welche Folgen hat die einseitige Entscheidung der Regierung Trump gegen INF für die transatlantische Allianz?
Einerseits reiht sie sich ein in eine Reihe von einseitigen Entscheidungen der Trump-Regierung gegen den Rat der engsten europäischen Verbündeten, wie beispielsweise auch schon in der Iran-Frage. Andererseits besteht kein vernünftiger Zweifel an dem Bruch des INF-Vertrages durch Russland. Deshalb ist es jetzt wichtig, dass die Nato geschlossen bleibt bei der Reaktion auf das Ende des INF-Vertrages und sich nicht von Russland spalten lässt.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat bereits eine Reaktion der Allianz angekündigt, er spricht von „notwendigen Maßnahmen“. Muss der Westen seine militärischen Abschreckungsfähigkeiten gegenüber Russland stärken?
Es kommt auf eine Gesamtbetrachtung der nuklearen und konventionellen Fähigkeiten, offensiv wie defensiv, der Nato insgesamt an. Eine Wiederaufrüstungsdebatte über die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen in Europa steht nach Auffassung aller Nato-Partner nicht an. Stattdessen geht es darum zu überprüfen, wo die Nato in der Abwehr von Bedrohungen besser werden kann, beispielsweise bei der Luftabwehr insbesondere gegen Marschflugkörper. Und es geht darum, dass wir als Nato neben der Abschreckung auch den Dialog mit Russland weiter pflegen. Deshalb wäre es auch sinnvoll, wenn der Nato-Russland-Rat wieder auch Ministerebene tagen würde.
Auch wenn eine Stationierung neuer US-Raketen zur Zeit noch von keinem Nato-Staat gefordert wird: Eine solche Nachrüstung wird in Osteuropa deutlich weniger kritisch betrachtet als in Westeuropa. Was bedeutet das für Europa?
Entscheidend ist, dass wir die Befürchtungen und Ängste unserer osteuropäischen Partner ernst nehmen und auch angemessen darauf reagieren. Das bedeutet, dass wir Möglichkeiten jenseits der plumpen spiegelbildlichen Raketenstationierung prüfen. Genau das tut die Nato. Eines darf nicht passieren: Dass wir durch eine neue Wiederaufrüstungsdebatte die Nato spalten.
Die deutschen und europäischen Appelle für eine Renaissance von Rüstungskontrolle und Abrüstung stoßen bei Trump wie bei Putin auf taube Ohren. Was kann Europa nun tun?
Das Dilemma ist in der Tat, dass die Aufmerksamkeit der beiden traditionellen Atommächte USA und Russland für Belange europäischer Sicherheit deutlich rückläufig ist, weil wir inzwischen erhebliche Atomwaffenarsenale anderer, nichteuropäischer Länder wie beispielsweise China haben. Umso wichtiger ist es, dass Europa in einen intensiven sicherheitspolitischen Dialog eintritt mit Russland und den USA und sie auch dazu bringt, die europäischen Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen. Das geht nur mit einem geschlossenen Auftreten der EU-Mitglieder der Nato.
Wächst damit die Gefahr, dass Washington und Moskau eine Sicherheitspolitik zu Lasten Dritter, nämlich Europas, betreiben?
Diese Gefahr besteht. Auch die Gefahr, dass es Zonen unterschiedlicher Sicherheit in der Nato gibt, dass die europäischen Nato-Mitglieder von Mittelstreckenraketen Russlands erreichbar sind, während der nordamerikanische Kontinent außerhalb dieser Reichweite ist. Sollte der New-START-Vertrag verlängert werden, wäre dies zwar für die globale atomare Rüstungsbegrenzung gut, aber diese Zweiteilung würde sich noch weiter verschärfen. Das alles ist für die europäische Sicherheit eine bedrohliche Situation, zumal Russland in der letzten Jahren seegestützte Atomraketen außerhalb des INF-Vertrages entwickelt hat. Das ist für Europa alles keine gute Entwicklung.