Warum auch in Deutschland so viele Menschen Erdoğan wählen
Bevor es richtig begann, war es auch schon wieder vorbei: In der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 versuchten Teile des türkischen Militärs, die Macht im Staat zu übernehmen. Nach nur wenigen Stunden jedoch gaben die Soldaten auf – zu viele Menschen hatten sich ihnen in den Weg gestellt und die Putschisten noch vor dem Morgengrauen gestoppt.
Rund 60 Prozent für Erdoğan
Alle Parteien im türkischen Parlament – von der rechtsextremen MHP bis zur linken HDP – sprachen sich umgehend gegen den Coup aus. Auch in Deutschland demonstrierten viele Menschen, vor allem aus der türkischen Community, gegen das Militär. „Von diesen Demonstranten verlange ich, dass sie nicht nur gegen den Putsch, sondern auch für Demokratie auf die Straße gehen“, forderte der Politik-Berater und Aktivist Kenan Kolat bei einer Amnesty-International-Veranstaltung am Donnerstag in Berlin. Die Podiumsdiskussion fand unter dem Titel „Politik nach dem Putschversuch – Menschenrechte und Demokratie in Gefahr?“ statt.
Die Mehrheit der in Deutschland lebenden Türken – rund 60 Prozent – wählten die AKP, die islamisch-konservative Partei des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, so Kolat. Der Grund: Es gebe zu viele „Bruchstellen“ zwischen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und der türkischen Community – der steigende Hass auf den Islam, die lange verharmlosten Morde des sogenannten NSU, die Diskussion um den Doppelpass. Hinzu komme das jahrelange „Türkei-Bashing“ vonseiten konservativer Politiker in Deutschland – auch dies treibe die Deutsch-Türken in die Arme der AKP.
Das Schweigen der EU
Die Politik in Deutschland und in der EU habe die Türkei lange „von oben herab“ behandelt, kritisierte Kolat. Selbst die oppositionellen Kräfte des Landes würden von der Bundesregierung weitgehend missachtet, klagte auch Mehmet Tanrıverdi von der Kurdischen Gemeinde Deutschland. Kein EU-Vertreter besuche je die vom türkischen Militär belagerte kurdische Stadt Diyarbakır, um vor Ort die Einhaltung der Menschenrechte einzufordern. Die Antwort der EU auf Massenverhaftungen, Amtsenthebungen und die Abschaffung der Gewaltenteilung in der Türkei sei allzu oft: Schweigen.
„Es kann nicht sein, dass Erdoğan uns weiter erpresst und unter Druck setzt“, sagte Tanrıverdi mit Blick auf das Flüchtlingsabkommen zwischen Brüssel und Ankara. Auch Frank Schwabe, menschenrechtspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, findet, der EU-Türkei-Deal sei „falsch, weil die Bedingungen falsch sind.“ Es gebe in der Türkei „kein vernünftiges Asylverfahren“. Über die schwierige Menschenrechtslage in dem Land dürfe nicht geschwiegen werden: „Man muss laut sein und die Dinge entsprechend benennen“, forderte er. Bundeskanzlerin Angela Merkel müsse dazu in bilateralen Gesprächen klare Worte finden.
Menschenrechte „auf den Kopf gestellt“
Die Menschenrechtslage in der Türkei sei „ausgesprochen schlecht“, erklärte Andrew Gardner, Türkei-Experte von Amnesty International. Seitdem die Regierung den Ausnahmezustand verhängt hat, seien rund 40.000 Menschen verhaftet worden – darunter viele Journalisten, Richter und Lehrer. Es herrsche eine Atmosphäre der Angst, in türkischen Gefängnissen seien Folter und Misshandlungen angestiegen, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit würden „auf den Kopf gestellt“.
Trotz allem sollten die Gespräche mit Ankara nicht ausgesetzt werden, waren sich alle Teilnehmer der Podiumsdiskussion einig. Der Grünen-Politiker Özcan Mutlu sieht eine Mitschuld an der Situation bei Angela Merkel, die bei ihren Türkei-Besuchen zur Menschenrechtslage beharrlich geschwiegen habe. „Wäre die Türkei in der EU“, so Mutlu, „hätte es den Putsch nie gegeben“. Aus diesem Grund will Kenan Kolat die EU-Beitrittsverhandlungen auch weiterführen: „Man muss in den Verhandlungen das Kapitel der Rechtsstaatlichkeit aufmachen“, lautet seine Forderung. Auch für den SPD-Politiker Frank Schwabe gibt es keine Alternative zum Dialog mit Ankara. Als Mitgliedsland des Europarates müsse die Türkei an ihre Verpflichtungen in Sachen Menschenrechte erinnert werden: „Es ist wichtig, dass der Europarat versucht, da wieder einen Fuß in die Tür zu kriegen.“
ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.