Wahl in den Niederlanden: „Wir erleben einen Linksruck ohne linke Parteien.“
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Am Mittwoch wird in den Niederlanden ein neues Parlament gewählt. In den Umfragen liegt die liberal-konservative VVD von Ministerpräsident Mark Rutte mit großem Abstand vorn. Ist die Wahl bereits entschieden?
Ja, das ist sie – und zwar, weil sie komplett von der Corona-Pandemie überschattet wird. Es gibt eigentlich kein anderes Thema in den Niederlanden. Aus meiner Sicht war es auch nicht klug, die Wahl mitten in der Pandemie abzuhalten. Ein richtiger Wahlkampf ist unter diesen Bedingungen kaum möglich. In Krisenzeiten gibt es schließlich keine gleichen Wettbewerbsbedingungen zwischen Opposition und Regierung. Und der Wahlkampf kann wegen Corona nur in den sozialen Medien und in Fernsehdebatten stattfinden, nicht aber auf den Marktplätzen. Andererseits kann eine Regierung aber auch nicht einfach sagen, wir verschieben die Wahlen mal eben. Das machen nur autoritäre Führer wie Putin und Erdogan. In Zeiten wie diesen wählen die Menschen vor allem den Status quo wie wir es in Deutschland auch gerade bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg gesehen haben. Mark Rutte hat in dieser Situation einen doppelten Bonus: den Amtsvorteil als Ministerpräsident und den Corona-Bonus. In einer Krise wechselt man nicht den Krisenmanager.
Also geht es am Mittwoch nur um die Frage, mit welchen Partnern Rutte regieren wird?
Ja. Die Frage wird sein, ob er seine Koalition aus VVD, der christdemokratischen CDA, der progressiv-liberalen D66 und der calvinistischen „ChristenUnie“ fortsetzt. Die ChristenUnie könnte auch durch die sozialdemokratische PvdA oder die Grünen ersetzt werden. Die linken Parteien in den Niederlanden sind seit einiger Zeit ziemlich marginalisiert. Doch es gibt zurzeit eine paradoxe Situation: Wir erleben bei dieser Wahl einen Linksruck ohne linke Parteien.
Inwiefern?
Wenn man sich die Programme aller Parteien ansieht, auch die der Mitte-rechts-Parteien, sieht man eine Renaissance des starken Staates und einen Trend zu mehr Ausgaben im öffentlichen und sozialen Bereich, vor allem für das Gesundheitssystem und die Klimapolitik. Das sind Folgen der Corona-Pandemie, in der allen bewusst geworden ist, wo Probleme liegen und dass es einen handlungsfähigen Staat braucht. Die Niederlande haben einen „neoliberalen Wohlfahrtsstaat“ entwickelt, ein Produkt der Zusammenarbeit zwischen Liberalen, Christdemokraten und Sozialdemokraten. Aber unser auf Effizienz und Markt getrimmtes Gesundheitssystem war der Pandemie an vielen Stellen nicht gewachsen. Deshalb gehörten Sparpolitik und schwarze Null jetzt der Vergangenheit an, und öffentliche Investitionen sind Konsens nahezu aller Parteien. Wir erleben das Ende der neoliberalen Ära, aber die Liberalen haben sich schnell angepasst. Klimapolitik gehört zum politischen Konsens, aber „GroenLinks“ profitiert nicht, sondern verliert sogar an Zustimmung. Die Wähler wollen mehr Klimapolitik, aber nur von den mitte-rechts Parteien.
Vor kurzem war die Unzufriedenheit mit der Corona-Politik der niederländischen Regierung groß. Im Januar ist sie zudem geschlossen wegen eines Kindergeldskandals zurückgetreten und seitdem nur noch geschäftsführend im Amt. Warum sitzt Mark Rutte trotzdem so fest im Sattel?
Das hat unterschiedliche Gründe. Weltweit erleben wir gerade, dass Parteien unwichtiger werden und vor allem die Köpfe zählen. Parteien sind Personen geworden. Das erleben Sie in Deutschland mit Angela Merkel. In Österreich hat Sebastian Kurz die ÖVP vollkommen auf sich zugeschnitten. In Frankreich hat Emmanuel Macron das traditionelle Parteiensystem zerstört. Und auch in den Niederlanden ist die VVD in erster Linie „Mark-Rutte-Partei“. . Diese Partei ist die einzige übriggebliebene Volkspartei, eine Art säkulare CDU, dabei ist die VVD gemessen an der Anzahl der Mitglieder sogar eine eher kleine Partei. Das symbolisiert die Krise des traditionellen Parteiensystems.
Dazu kommt, dass die Niederlande unter einem gebrochenen Selbstbild leiden. Wir halten uns für einen sehr fairen Wohlfahrtsstaat. Dieses Bild hat mit dem Kindergeldskandal, der Anfang des Jahres bekannt geworden ist, einen tiefen Knacks bekommen. Das zum Teil schlechte Corona-Management hat uns zudem gezeigt, dass wir nicht einer der am besten organisierten Gesellschaften der Welt leben, als die wir uns gerne sehen. In Krisenzeiten wirkt das holländische deliberativen „Poldermodell“ weniger effizient. In Zeiten wie diesen braucht man eher ein „Kommando-Ökonomie“. Trotz allem scheint Mark Rutte den Menschen eine Sicherheit als Krisenmanager zu vermitteln, zumal die Kandidaten der anderen Parteien keine wirkliche Alternative sind. Hinzu kommt, dass er ein Talent dafür hat, alle Probleme an sich abperlen zu lassen und einen Schuldigen im Kabinett zu finden. Mark Ruttes Spitzname ist ja nicht umsonst „Mister Teflon“.
Die rechtspopulistischen Parteien, allen voran Geert Wilders mit seiner PVV, scheinen bei dieser Wahl keine große Rolle zu spielen. Warum profitieren sie nicht von der Corona-Situation?
Wilders profitiert durchaus von der Corona-Situation. Seine Partei liegt in den Umfragen auf Platz zwei, wenn auch mit großem Abstand zur VVD von Mark Rutte. Sie könnte allerdings noch von der CDA oder D66 überholt werden. Im Gegensatz zur zweiten rechtspopulistischen Partei, dem umstrittenen „Forum voor Democratie“, leugnet Wilders nicht, dass es das Virus gibt. Er greift allerdings das Corona-Management der Regierung an. Er kritisiert den radikalen Lockdown und möchte Restaurants und Cafés öffnen. Das verschafft ihm den Zuspruch seiner Wähler. Gleiches gilt für die „Klimahysterie“ der etablierten Parteien wie er es nennt und die Kritik am Corona-Hilfspaket der EU. Warum Transfers nach Italien, wenn wir selbst Problemen in Gesundheitssystem haben? So kann sich Wilders als einzige wahre Opposition zum Establishment inszenieren. Das verschafft ihm ein stabiles Wählerpotenzial von 15 Prozent. Es ist aber klar, dass er nie einer Regierung angehören wird. Die anderen Parteien schließen das aus wegen seiner aggressiven Islamophobie
Die sozialdemokratische PvdA musste im Januar ihren Spitzenkandidaten austauschen. Lodewijk Asscher ist wegen des erwähnten Kindergeldskandals, der in seiner Amtszeit als Sozialminister gefallen ist, zurückgetreten. Wie sehr hat das die Partei getroffen?
Der Rücktritt war ein schwerer Schlag für die PvdA. Nach dem Absturz bei der Wahl 2017 hat es Lodewijk Asscher geschafft, die Partei zu stabilisieren und Schritt für Schritt zurückzuführen. Bei der Europawahl 2019 konnte sie mit Frans Timmermans an der Spitze sogar stärkste Kraft werden. Der Kindergeldskandal hat die PvdA hart getroffen, weil er einen der sozialen Grundsätze der Partei berührt hat. Deshalb wurde Asscher dazu gedrängt, als Spitzenkandidat zurückzutreten. Das war konsequent, wird der Partei bei der Wahl aber auch schaden. Lodewijk Asscher ist ein guter Redner, der sicher in den Fernsehdebatten, die wegen Corona ein Schwerpunkt des Wahlkampfs gewesen sind, gepunktet hätte. Die PvdA hat nun mit Lilianne Ploumen zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine weibliche Spitzenkandidatin. Sie hatte nur wenige Woche, um sich bekannt zu machen. Die PvdA liegt in den Vorhersagen bei elf bis 13 Sitzen im Parlament und damit nur leicht über dem Ergebnis der Wahl von 2017. Die PvdA kann damit noch immer keine schöne Inspiration für ihre deutsche Schwesterpartei SPD sein.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.