Waffen an Kurden: Vor 20 Jahren undenkbar, heute möglich
Der Vorsitzende des Friedenskorps Grünhelme e.V. und Gründer der Hilfsorganisation Cap Anamur / Deutsche Not-Ärzte e.V., Rupert Neudeck, hält Waffenlieferungen an die Kurden im Irak im Kampf gegen die Terrormilizen des IS (Islamischer Staat) heute für möglich. Neudeck ist am Montag Gast im SPD-Parteivorstand. Hier sein Gastkommentar für vorwärts.de.
Wir müssen in der Gesellschaft die Debatte über den Pazifismus wieder aufnehmen, vielleicht auch die Nomenklatur der Begriffe ändern. Unter der Friedensbewegung kann man eine „organisierte Emotion“ verstehen. Das ist ein Wort des damaligen MdB Norbert Gansel, das ich nicht vergessen konnte. Damals hat es mich geärgert, aber ich musste zugeben, dass er nicht Unrecht hatte mit dieser Charakterisierung.
Pazifismus neu verstehen
Gerade aus Anlass der hundertjährigen Wiederkehr der „Urkatastrophe“ (George Kennan), des Ersten Weltkriegs 1914, müssen wir uns klarmachen, dass der bisherige Pazifismus eher eine organisierte, später auch festangestellte Emotion war und manchmal noch ist. Der Pazifismus kann ja nicht damit beginnen, dass ich 1992 bis 1994 durch das von serbischen Kanonen eingeschlossene Sarajevo gehe und den bedrängten Stadtbewohnern sage: „Das müsst Ihr ohne Waffen für Eure Kämpfer aushalten, das sagt mir mein pazifistischer Glaube.“
Es sind zwei Überlegungen, die dazu führen, dass die Waffen für die Kurden nicht gegen unsere Überzeugungen gerichtet sind. Einmal hätte ich vor mehr als 20 Jahren nicht geträumt und geahnt, dass wir einmal den Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier 2014 in Erbil sehen würden, beim Empfang durch den amtierenden und anerkannten Präsidenten der kurdischen Entität im Norden der Irakischen Republik, Mustafa Barzani. Vor mehr als 20 Jahren musste sich der amtierende Innenminister des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen Dr. Herbert Schnoor (SPD) alle möglichen diplomatischen Klimmzüge einfallen lassen, um selbst ins nordirakische Kurdistan zu reisen oder auch Mustafa Barzani nach Düsseldorf einzuladen. Das ist lange her.
Kurden haben Öcalan-Mythos abgeschworen
Die Kurden haben sich in den letzten 20 Jahren sehr zu ihren Gunsten verändert. Sie haben dem Öcalan-Mythos abgeschworen, sind vernünftig geworden. Das kann man auch in Deutschland beobachten und erleben. Vor 20 Jahren, als wir mit Cap Anamur Kurden nach einem UNO-Beschluss aus der südtürkisch-anatolischen Stadt Sirnak wieder zurückbrachten mit bewaffneten UNO-Blauhelmen als Eskorte, hätte ich mir niemals vorstellen können, dass es in Deutschland überhaupt mal den Gedanken an Waffen für die Peschmerga würde geben können. Damals waren wir fassungslos: Die beiden rivalisierenden Clans der Barzani und der Talabani, von Erbil und von Suleimaniah bekämpften sich auch militärisch mit ihren zugehörigen Peschmerga-Milizen. Beide Gruppen und Clans standen nicht zusammen gegen ihren gemeinsamen Gegner in Bagdad, Saddam Hussein, der vorher die Giftgasangriffe auf die Kurden in Halabja gegen sie ausgelöst hatte. Es war eine Katastrophe.
IS-Terrormilizen nicht islamisch nennen
Zum anderen dürfen wir den Verbrechern vom IS nicht andauernd den Gefallen tun, sie radikalislamisch zu nennen. Das kann doch nur ein Ehrentitel für sie sein und ist es auch. Wir wollen doch radikale Christen sein oder sollten es zumindest sein. 99 Prozent der deutschen Muslime werden es uns danken, wenn wir mit dieser falschen Etikettierung Schluss machen und das Wort „radikalislamisch“ wie das Wort „radikalchristlich“ als Ehrentitel nehmen.
Ex Oriente Lux: Der Leiter der Sunni Ulemas, einer islamischen Gelehrtenschule in Kerala/Indien, Scheich Abu Bakr Ahmad hat eine Fatwa gegen diese Terror-Organisation erlassen: Der IS und seine selbst ernannten Kalifate repräsentieren in keiner Weise den Islam. „Diese Organisationen sind nicht nur antiislamisch, sie sind auch Feinde der gesamten Menschheit.“
UNO muss schlagkräftiger werden
Die Waffen werden ihren Sinn haben, indem sie diese starke und tapfere kurdische Miliz dabei unterstützen, das zu tun, was die UNO in dieser Lage der Welt leider nicht tun kann. Ich hoffe, dass wir es demnächst schaffen, die UNO wirklich schlagkräftiger und stärker zu machen.
ist Journalist. Bekannt wurde er vor allem durch die Rettung tausender vietnamesischer Flüchtlinge 1979 aus dem Chinesischen Meer mit dem Schiff Cap Anamur. Er ist Gründer der Hilfsorganisation Cap Anamur / Deutsche Not-Ärzte e.V. und Vorsitzender des Friedenskorps Grünhelme e.V., die sich unter anderem in Syrien engagieren.