Was der ehemalige Regierungschef (2005-2007) von Sarkozys Amtsvorgänger Jacques Chirac anspricht, sind wachsende Arbeitskonflikte und überall im Land spontan ausbrechende Streiks und Werksbesetzungen mit Geiselnahme von Unternehmern. 24 Stunden lang saßen zum Beispiel beim Autozulieferer MOLEX zwei Topmanager fest, die unter Beschimpfungen wie "Diebe und Lumpen" ihr Büro verließen. Fast 300 Jobs sollen bei MOLEX gestrichen werden.
Geiselnahme, Streiks und Demonstrationen
Beim Reifenhersteller CONTINENTAL im nordfranzösischen Clairoix stehen die Zeichen auf Sturm. 1100 Stellen werden eingespart. Aus Wut schlugen Beschäftigte Computer und das Mobilar in der
Unterpräfektur von Compiegne kurz und klein. Sie werden mit Sonderzug zu einer Aktionsärsversammlung von Continental nach Hannover reisen und dort protestieren. Ein Gericht in ihrer Region hatte
ihren Antrag auf Aussetzung der Werksschliessung in einem Jahr abgelehnt. Die US-Filiale CATERPILLAR (Grenoble) verliert 600 Arbeitsplätze. In diesem wie in anderen Werken richtet sich die Wut
gegen die "Patrons": Hier Massenentlassungen, dort Abschied von Spitzenkräfte mit dicken Abfindungen und Boni.
In Frankreich radikalisiert sich die soziale Auseinandersetzung. Im Volk findet der Verdruss breites Verständnis. In Umfragen billigen fast dreiviertel der Franzosen den Existenzkampf der
Belegschaften. Schon immer sind in Frankreich Sozialkämpfe hitzig ausgetragen worden. TV-Experte Marc Sylvestre sagte im TF-1-Kanal: "Das ist ein typisch französisches Phänomen. Wir haben eine
Kultur der Konfrontation. Deutschland hat zwar genau so viele Arbeitslose, aber dort gibt es keine Geiselnahme. Die Gewerkschaften blasen in die Glut!"
Verständnis auch für Aktionen, die weit über den Industriebereich hinausgehen. Weil der Elektrizitätskonzern EDF zugesagte 5 Prozent Lohnerhöhung im Pariser Großraum aus Wirtschaftsgründen
hinauszögert, schalteten EDF-Angestellte in 70 000 Haushalten den Strom für einige Stunden ab. Da Hospitäler betroffen wurden, fiel die Reaktion gerade des medizinischen Personals heftig aus.
Premier Francois Fillon kritisierte die EDF-Agitation als "Sabotage", die durch Streik nicht gerechtfertigt sei.
Weiterhin Millionenabfindungen für Manager
Die führenden Gewerkschaften heben die Schultern. Sie scheinen überfordert zu sein. Andrerseits wollen sie nicht eingreifen, weil sie ihren Mitgliederstand halten und zum 1. Mai zu neuen,
massiven Großkundgebungen gegen Sarkozy aufrufen wollen. Die Einheitsfront der acht führenden Gewerkschaften scheint zu stehen. Solange eine Mehrheit der Franzosen zustimmt, sehen die
Arbeitnehmerorganisationen auch keinen Anlass, die Gewalt an der Basis anzuprangern.
Unternehmer oder Direktoren in Geiselhaft, das erregt die bürgerliche Regierung besonders. Fillon droht, gegen Gewaltakte strafrechtlich vorzugehen. Er rief den Unternehmerverband MEDEF
auf, seine Mitglieder bei der Zahlung von Millionenabfindungen zu zügeln. Anderenfalls werde die Regierung "sehr schnell ein empfindliches" Steuergesetz erlassen. Der Vorgang zeigt, dass sich die
ansonsten guten Beziehungen zwischen Regierung und Unternehmerschaft stark verschlechtert hat.
Derweil bieten Finanzberater ganz unironisch Managern einen Verhaltenskodex im Falle von Geiselnahme an. Zuerst sollte ein Koffer mit dem Notwendigsten für Übernachtungen bereitstehen.
Weiter sollten sie sich auf aggressive Befragungen vorbereiten, der Belegschaft die Probleme bei Entlassungen klar darlegen und vor allem "ruhig und vertrauensvoll die Nerven behalten". Der Ruf
nach Justiz und Polizei sei konterproduktiv.
Das Fernsehen will fast täglich die Meinung von Passanten zum Konflikt hören. Die Antworten sind im Tenor gleich. Ein älterer Franzose: "Ich verstehe die Verbitterung. Einen Job verlieren
ist fürchterlich!" Eine Pariserin im mittleren Alter: "Etliche haben Kredite am Hals und müssen ihre Schulkinder durchbringen!" Ein Gewerkschafter aus Grenoble versucht seine Wut zu zügeln: "Was
zählt ist Geld! Geld! Geld! Jetzt bringen sich endlich jene zu Gehör, die keines haben!"
ist Auslandskorrespondent in Frankreich für verschiedene Tageszeitungen und Autor mehrerer politischer Bücher, u. a. „Willy Brandt – ein politisches Porträt“ (1969).