Vor dem Verfassungsreferendum: „Die türkische Gesellschaft ist eingeschüchtert“
Dirk Bleicker
Herr Öszoy, wie ist die Situation für die HDP im Moment?
Wir stehen unter enormem Druck. Präsident Erdogan hat versucht, unsere Partei vor dem Referendum am Sonntag lahm zu legen. Mehr als 3000 Menschen, Führungskräfte und Mitglieder der HDP und unserer Schwesterpartei, der DBP, sind jetzt im Gefängnis. Unter ihnen sind unsere beiden stellvertretenden Parteivorsitzenden, Mitglieder des türkischen Parlaments und über 80 gewählte kurdische Bürgermeister. Dadurch ist es für uns sehr schwierig, eine wirksame Kampagne für das „Nein“ zur Verfassungsänderung zu organisieren. Wir müssen die Menschen zur Abstimmung mobilisieren und dafür sorgen, dass kein Betrug an den Wahlurnen erfolgt. Erschwerend kommt hinzu, dass wir seit den Wahlen im Juni 2015 keinen Zugang zu den türkischen Medien mehr haben. Und 99 Prozent der kurdischen oder alternativen Medien wurden verboten. Dies ist eine sehr schmutzige Kampagne für das Referendum seitens Erdogans und der AKP. Die türkische Gesellschaft ist eingeschüchtert, weil Erdogan erklärt hat, dass jeder, der mit „Nein“ abstimmt, eine Terrorist und ein Feind des türkischen Volkes ist. Er versucht, die Gesellschaft zu polarisieren und die Option des Nein zu deligitimieren. Das Referendum findet unter keinen demokratischen Voraussetzungen statt.
Das klingt frustrierend und hoffnungslos.
Ja, aber wir versuchen trotzdem, unsere Kampagne über direkte Kontakte in der Nachbarschaft, auf den Straßen und ein bisschen über die sozialen Medien durchzuführen. Wir haben keine andere Wahl, als unseren Optimismus nicht zu verlieren.
Es gab großen Streit um Reden türkischer Minister in Deutschland und den Niederlanden. Was denken Sie darüber?
Was Erdogan und seine Minister getan haben, war illegal. Sie haben laut Gesetz kein Recht, Botschaften in anderen Ländern für eine Parteikampagne zu nutzen. Das Gleiche gilt für die Nutzung von Regierungsflugzeugen. All dies wird durch Steuergelder finanziert. Aber das stört sie nicht, denn Erdogan und die AKP denken, sie stehen über dem Gesetz. Bezüglich der Streitereien mit Deutschland und den Niederlanden können wir sagen, dass Erdogan vor jeder Wahl einen äußeren Feind findet. Es ist Teil seiner Strategie, Fremdenfeindlichkeit zu fördern, um die ultranationalen Kräfte in der Türkei zu mobilisieren.
Glauben Sie, dass dies auch wieder beim Referendum funktioniert?
Dieses Mal bin ich mir nicht sicher. Einerseits gibt es einige Ultranationalisten, die dieses Thema als eine Frage der Würde betrachten. Erdogan spielt mit diesen Gefühlen. Andererseits gibt es jedoch die Mittelschicht, die kleinen Unternehmer usw. Sie sind sehr besorgt, denn sie sind auf gute Beziehungen zu den europäischen Ländern angewiesen. Kurzfristig könnte Erdogan mit seiner Strategie erfolgreich sein, aber langfristig wird dies für die Türkei katastrophal sein.
Allgemein betrachtet: Wie wichtig ist Europa für die Türkei?
Europa ist sehr wichtig. Wie ich bereits sagte, gibt es starke wirtschaftliche Bindungen, aber es gibt noch einen weiteren strategischen Grund für die Türkei, auf gute Beziehungen zu Europa zu setzen, denn es gibt zahlreiche Kriege im Nahen Osten. Die Mehrheit der Türken möchte keine Konfrontation mit der EU oder einzelnen europäischen Ländern. Deshalb ist Erdogans Strategie selbst für ihn sehr riskant.
Hätte die Europäische Union stärker reagieren sollen?
Auf alle Fälle. Die Europäische Union hat leider bis zur letzten Minute gewartet. Sie hätte agieren sollen, als Erdogan begann, Politiker zu verhaften und gegen die Medien vorzugehen. Aber sie haben bis zum Referendum abgewartet und sind jetzt erstaunt, dass Erdogan nicht auf sie hört.
Ist es trotzdem möglich, die Veränderungen in der Verfassung aufzuhalten?
Ja, das ist noch möglich. Die türkische Opposition wurde ins Abseits gedrängt und ist orientierungslos, aber wir sind in der Lage, das Präsidialsystem aufzuhalten. Europa sollte eine einheitliche, entschlossene und grundsätzliche Position gegen Erdoğans aggressive Konfrontationspolitik einnehmen und ihn immer wieder an die universellen demokratischen Werte und grundlegenden Freiheiten erinnern, die er bei sich ausgelöscht hat.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.