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Von der mongolischen Steppe nach Berlin und zurück

Der Sozialdemokrat Dendev Terbishdagva schaffte es vom einfachen Jungen auf dem Land zum Botschafter und Minister der Mongolei. Er studierte in der DDR und erlebte Mauerfall und Wiedervereinigung hautnah mit. Das hat auch sein Leben entscheidend verändert.
von Niels Hegewisch · 8. Januar 2021
Der damalige mongolische Vizeminister Dendev Terbishdagva (l.) trifft in Peking den chinesischen Staatsrat Yang Jiechi, Aufnahme aus dem Jahr 2013.
Der damalige mongolische Vizeminister Dendev Terbishdagva (l.) trifft in Peking den chinesischen Staatsrat Yang Jiechi, Aufnahme aus dem Jahr 2013.

In Ihrem Buch beschreiben Sie Ihren Weg von einer Jurte in der mongolischen Steppe bis zum Brandenburger Tor in Berlin. Wie haben Sie als Nomadenkind Ihren Weg nach Deutschland gefunden?

Zugang zu höherer Bildung war auch in der sozialistischen Mongolei lange Zeit etwas für die besser gestellten Stadtbewohner. Oft wurden Kinder einflussreicher Parteifunktionäre zum Studieren ins Ausland geschickt. Erst in den 1970er-Jahren strebte die Parteiführung danach, auch Nomaden- und Arbeiterkindern diesen Weg zu eröffnen. Dass ich es als Junge aus einfachen Verhältnissen wegen meiner guten Schulleistungen zum Studium in die DDR schaffte, war also ein großes Glück.

Dass ich ausgerechnet nach Deutschland geschickt wurde, um Lebensmitteltechnologie an der Humboldt-Universität zu studieren, war allerdings kein Zufall. Bereits 1926 kamen die ersten jungen Mongolen zum Studium nach Deutschland. Damals wollte der junge mongolische Staat ein öffentliches Bildungssystem aufbauen und suchte nach internationalen Vorbildern. Da seinerzeit die Alphabetisierungsrate in Deutschland zu den höchsten der Welt gehörte, entschied man sich dafür, von diesem Modell zu lernen. Meine Vorgänger verließen Ulaanbaatar noch auf Pferdewagen und kamen erst nach einer 39-tägigen Reise mit Zug, Schiff und Auto in Deutschland an. Als ich 1975 in Ulaanbaatar aufbrach, um eine Woche mit Zug in die DDR zu reisen, gab es kaum noch Analphabeten in der Mongolei. Das Land war nun per Eisenbahn mit Russland und China verbunden, baute seine erste Kupfermine und erzeugte 80 Prozent seines Strombedarfs selber. Was für einen Unterschied 50 Jahre machen können!

Sie haben nicht nur in der DDR studiert, sondern auch den Mauerfall und die Wiedervereinigung in Deutschland miterlebt. Wie kam es dazu?

Nach meinem Abschluss habe ich sechs Jahre im Fleischkombinat von Ulaanbaatar gearbeitet. 1988 wurden meine Frau, die ich während meines Studiums in Berlin kennengelernt hatte, und ich vom Mongolischen Jugendverband ausgewählt, um an der FDJ-Jugendhochschule Bogensee in der Nähe von Bernau bei Berlin mongolische Nachwuchskader zu betreuen. In Bogensee studierten über 500 Studenten aus mehr als 60 Ländern. Wir waren unter anderem für die Dolmetschung der von den Mongolen besuchten Kurse verantwortlich.

Am 9. November 1989 war ich ganz normal bei der Arbeit. Wir hatten Freunde aus der Mongolei zu Besuch. Abends schauten wir die DDR-Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“. Dort wurde bekannt gegeben, dass das Zentralkomitee der SED beschlossen hatte, dass man von nun frei in Richtung Westdeutschland und West-Berlin reisen könne. Auch das West-Fernsehen berichtete ununterbrochen. Wir konnten kaum glauben, was wir hörten. Wir machten uns wie Tausende andere auch auf den Weg zur Mauer im Herzen Berlins. Bereits in der S-Bahn herrschte eine ausgelassene Stimmung. Als wir an der Mauer ankamen, sahen wir Feuerwerk und feiernde Menschen. Wir konnten in der Menschenmenge nicht bis zur Grenze vordringen. Wir hätten uns als Ausländer in der DDR auch nicht getraut, die Grenze zu überschreiten. Später am Abend fuhren wir mit gemischten Gefühlen wieder zurück.

Die Teilung der Welt war für uns eine nicht hinterfragte Selbstverständlichkeit und die Berliner Mauer deren betongewordenes Symbol. Waren alle Spannungen nun verschwunden? Wie würde es in der DDR weitergehen? Was machte die Sowjetunion? Drohte am Ende Gewalt oder Krieg? Ich musste auch viel an meine Heimat denken. Wie würden die Neuigkeiten aus Deutschland dort aufgenommen werden? Was würde aus dem sowjetischen Satellitenstaat Mongolei werden?

Was bedeutete der Mauerfall für die Mongolei?

Genau vor dreißig Jahren, also nach dem Fall der Berliner Mauer aber noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, sorgte eine friedliche Revolution auch in der Mongolei für den Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft. Die Ereignisse in Deutschland waren bei uns natürlich nicht unbemerkt geblieben. Eine wachsende Unzufriedenheit und vereinzelte Demonstrationen hatte es bereits seit einigen Jahren gegeben. Dass der Umbruch in der Mongolei anders als zum Beispiel in Rumänien oder einigen Sowjetrepubliken friedlich verlief, war ein großer Erfolg, auf den die Mongolen heute mit Stolz zurückblicken. Große Demonstrationen und Hungerstreiks einiger Oppositioneller reichten, um das morsche System zum Einsturz zu bringen. Die alten Eliten räumten ohne nennenswerten Widerstand ihre Plätze. Das lag sicherlich auch daran, dass sich in den Reihen der Opposition nicht wenige Kinder führender Parteikader befanden. So war auch nach der Revolution ein friedliches Miteinander der alten und der neuen politischen Kräfte möglich.

Doch auch wenn der politische Wandel friedlich ablief, folgten auf dem Weg zur Marktwirtschaft schwere wirtschaftliche Erschütterungen. Unter dem Einfluss westlicher Ratgeber erfolgte die sogenannte „Schock-Therapie“, unter deren Folgen die Mongolei bis heute leidet. Eine überhastete Privatisierung hat zu einer extremen Ungleichverteilung von Vermögen und Chancen geführt. Als mit der Sowjetunion der wichtigste Handelspartner und Förderer der Mongolei wegfiel, brach unsere Wirtschaft fast vollständig zusammen. Strom und Heizung funktionierten häufig nicht mehr. Regelmäßig saßen die Bewohner Ulaanbaatars bei Kerzenschein in ihren kalten Wohnungen. Und auch auf dem Land waren die Zeiten schwer. Die überhastete Privatisierung machte aus den Viehzüchtern über Nacht Unternehmer, die zudem noch unter Dürre und harten Wintern zu leiden hatten. All dies führte zu einer Lebensmittelknappheit. In den Städten lief die Versorgung zeitweise nur noch über Lebensmittelkarten. Tausende wurden arbeitslos und die Mongolei galt fortan als Entwicklungsland.

Und auch wenn die Mongolei in den letzten 20 Jahren als wichtiger Rohstoffexporteur einen rasanten Wirtschaftsaufschwung erlebt hat und es angesichts der gewaltigen Rohstoffvorkommen auf dem Papier eigentlich eine leichte Übung ist, jedem Mongolen ein Leben in Wohlstand zu ermöglichen, profitiert hiervon vor allem eine kleine, politisch einflussreiche Gruppe.

Wenn Sie heute auf den Mauerfall und die Wiedervereinigung zurückblicken, wie hat sich dadurch Ihr Leben verändert?

Das war eine aufregende Zeit. Nach dem Mauerfall ging die Arbeit an der FDJ-Jugendhochschule zunächst weiter. Erst im Frühjahr 1990 wurde unsere Schule geschlossen. Doch die Veränderungen waren direkt nach dem Mauerfall mit Händen zu greifen. Im Unterricht wurde auf einmal offen und kritisch diskutiert. Die Studenten überhäuften die Dozenten mit Fragen, auf die diese keine Antwort wussten. Für viele Kollegen brach eine Welt zusammen. Sie hatten an den Sozialismus und dessen Überlegenheit geglaubt. Sie waren Anhänger der DDR und des SED-Staats. Die sich abzeichnende Wiedervereinigung mit einem tonangebenden Westdeutschland war ihnen ein Graus. Fast alle machten sich Sorgen um ihre Zukunft. Denn wer würde in einem wiedervereinigten Deutschland noch Experten für wissenschaftlichen Kommunismus oder Dozenten für DDR-Geschichte benötigen? Manch einer versank deshalb in Depression. Andere erschienen einfach nicht mehr zur Arbeit. Im Rückblick würde ich sagen, dass der Zusammenbruch einer Ordnung, an die man trotz mancher Kritik im tiefsten Inneren stets geglaubt hatte, schwerer wog, als der Verlust von Arbeitsplatz und Einkommen.

Auch für unsere Familie bedeutete die Wiedervereinigung einen tiefen Einschnitt. Meine Frau und ich verloren nach der Schließung der Schule unsere Arbeitsplätze und wir mussten uns in einer völlig neuen Welt von heute auf morgen neu orientieren. Das war nicht einfach und lag eigentlich außerhalb unserer Vorstellungskraft. Denn weder in der Mongolei noch der DDR hatte es bis dahin Arbeitslosigkeit gegeben. Immerhin erhielten wir von den DDR-Behörden noch eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung und von der Jugendhochschule drei Monatsgehälter als Abfindung. Wir setzten darauf, dass es mit einem wiedervereinigten Deutschland wirtschaftlich schnell bergauf gehen werde. Außerdem dachten wir an unsere Kinder, die sich in Deutschland gut eingelebt hatten. Und wir waren natürlich sehr neugierig auf die neue Gesellschaft, die sich zu formieren begann. Also entschieden wir uns, in Deutschland zu bleiben.

Nachdem ich eine Weile als Kellner und für das Ausländeramt der Stadt Bernau gearbeitet hatte, begannen meine Frau und ich in der Nachwendezeit mit dem Export von Waren aus Deutschland in die Mongolei. Die Restbestände der aus Ostdeutschland abziehenden Roten Armee ließen sich in der Mongolei gut verkaufen. Begehrt waren vor allem die Stiefel der sowjetischen Soldaten und der Nationalen Volksarmee der DDR, die sich für die mongolischen Nomaden als Reiterstiefel eigneten. 1996 haben wir dann das erste „deutsche” Kaufhaus mit einem Supermarkt in der Mongolei eröffnet, in dem wir unter anderem Lebensmittel, Haushaltswaren, Kosmetikprodukte, Schuhe und Bekleidung aus Deutschland verkauften. Es war der erste Selbstbedienungsladen in der Mongolei. Daraus hat sich ein bis heute gut laufendes Geschäft entwickelt. Die Erfahrungen der Wendezeit waren für uns ein unschätzbarer Vorteil, denn das, was unseren Landsleuten noch bevorstand, die Transformation vom Staatssozialismus zur freien Marktwirtschaft, hatten wir in Deutschland bereits erlebt.

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Autor*in
Niels Hegewisch

ist Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Mongolei.

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