Verteidigung: Warum in Skandinavien Scholz‘ Kurswechsel begrüßt wird
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Die nordischen Staaten haben Russlands Angriffskrieg in der Ukraine einhellig auf das Schärfste verurteilt und der Ukraine ihre uneingeschränkte Solidarität, politische Unterstützung und humanitären Beistand zugesichert. Alle fünf Länder – Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden – schlossen sich den umfassenden Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland an.
Zu Deutschlands außen- und sicherheitspolitischem Kurswechsel und den Entscheidungen der Bundesregierung, Waffen in die Ukraine zu liefern, Nord Stream 2 nicht in Betrieb zu nehmen, den Verteidigungshaushalt massiv aufzustocken und das Zweiprozentziel der NATO in Zukunft (über-)erfüllen zu wollen, sind dagegen bislang keine offiziellen Verlautbarungen der nordischen Regierungen bekannt. Doch in vielen nordischen Medien erhielt die deutsche Umkehr Aufmerksamkeit und Anerkennung. Sie ist für die nordischen Länder – als kleine, aber enge Partner Deutschlands in der EU und/oder der NATO – von großer Bedeutung.
Die norwegische Zeitung Aftenposten nannte die Trendwende formidabel, der finnische Rundfunk eine „totale Kurskorrektur“. Ein dänischer Wissenschaftler sprach im Dänischen Rundfunk von einem „Wow-Moment“. Die norwegische Deutschlandexpertin Kate Hansen Bundt bezeichnete die Veränderungen als sehr überraschend und – die Worte von Bundeskanzler Scholz aufgreifend – als den Beginn einer neuen Ära.
Vor dem deutschen Kurswechsel hatte es in nordischen Medien auch kritische Berichte gegeben über die deutsche Zögerlichkeit, Waffen in die Ukraine zu liefern und selbst aufzurüsten, sowie über die engen Wirtschaftsbeziehungen zu Russland. Doch einige der nordischen Länder befinden sich aufgrund ihrer geografischen Nähe, zahlreicher wirtschaftlicher Aktivitäten sowie pragmatischer politischer Beziehungen zu Russland in einer ähnlichen Lage wie Deutschland. Daher hatten sich die nordischen Regierungen mit scharfer Kritik an Deutschland eher zurückgehalten.
Insbesondere Finnland setzte trotz aller Probleme ebenfalls bis fast zum Schluss auf Diplomatie und Dialog mit Russland. Ähnlich wie in Deutschland zeichnet sich nun auch dort die bittere Erkenntnis ab, dass die bisherige Russlandpolitik, auf die insbesondere Präsident Sauli Niinistö seinen Schwerpunkt gelegt hatte, dramatisch gescheitert ist und komplett revidiert werden muss. Für Finnland war Russland bislang einer der wichtigsten Handelspartner, der drittgrößte bei Importen. Wie Deutschland bezieht auch Finnland über 50 Prozent seines Gases vom östlichen Nachbarn.
Sehr plötzliche Kehrtwenden aufgrund der neuen ernsten Lage musste es jetzt daher nicht nur in Deutschland geben. Der deutsche Mentalitätswandel sowie der entsprechende EU-Beschluss am 27. Februar, den Kauf von Waffen durch die Ukraine zu finanzieren, dienten gewissermaßen als Initialzündung und Legitimierungsgrund für Dänemark, Schweden, Finnland und Norwegen, jetzt ebenfalls Waffen zu liefern. Nacheinander kündigten die Regierungen am 27. und 28. Februar umfassende und sofortige Lieferungen an, darunter Tausende von Panzerfäusten, 300 Stinger-Flugabwehrraketen (Dänemark) und 2 500 Sturmgewehren (Finnland). Zuvor hatten sie aus ähnlichen Gründen wie die Bundesregierung gezögert und lediglich Schutzausrüstung und mobile Krankenhäuser versprochen.
In Norwegen gilt das gesetzlich verankerte Verbot, Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, auf das sich Norwegens Ministerpräsident Jonas Gahr Større noch am Sonntagabend berief. Am Montag kam dann die Kehrtwende. Das Gesetz wird jetzt so ausgelegt, dass das Verbot nur dann gilt, wenn man aus den Waffenlieferungen Profit ziehen möchte, was im Falle der Ukraine nicht gegeben ist. Auch für Schweden, wo es eine ähnliche Regelung gibt, ist es ein historischer Schritt. Der Beschluss wurde von einer breiten parteiübergreifenden Parlamentsmehrheit abgesegnet – nur die Linkspartei stimmte dagegen.
Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass auch einigen nordischen Ländern, die ebenfalls von Mitte-links-Bündnissen bzw. von sozialdemokratischen Minderheitsregierungen geführt werden, umfassende Änderungen ihrer generellen außen- und sicherheitspolitischen Ausrichtung bevorstehen – genau wie bei ihren Beziehungen zu Russland. Dänemark, Island und Norwegen sind bereits seit Gründung der NATO 1949 Mitglieder, Finnland und Schweden (noch) nicht.
Aufgrund der gemeinsamen Grenze zu Russland im Nordosten des Landes erlaubte Norwegen bislang jedoch keine dauerhafte Stationierung von NATO-Truppen und -Material auf seinem Territorium. Es unterhielt pragmatische politische Beziehungen und eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit Russland. Dies wird jetzt ebenso revidiert werden müssen wie zahlreiche Wirtschaftskooperationen im Energiebereich – auch wenn die norwegische Regierung bis zuletzt betonte, die Kooperation mit dem russischen Volk im Hohen Norden fortsetzen zu wollen. Bereits mit der Krimkrise ist die offizielle Zusammenarbeit dort jedoch bereits stark eingeschränkt worden. Auf Dänemark, das zu Russland schon länger ein eher kritisch-distanziertes Verhältnis unterhielt, könnte die Entscheidung Deutschlands, ab jetzt das Zweiprozentziel der NATO erfüllen zu wollen, politischen Druck ausüben.
Für Finnland und Schweden war eine NATO-Mitgliedschaft während des Kalten Kriegs aus geopolitischen Gründen ausgeschlossen. Auch nach dessen Ende war sie lange kein Thema. Dennoch wandelte sich der Status beider Länder von neutral zu bündnisfrei: 1995 traten sie der EU bei und nehmen an deren Gemeinsamer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik teil. Weiterhin gingen sie eine zunehmend engere Partnerschaft mit der NATO ein. Das Prinzip der Bündnisfreiheit ist allerdings weiterhin fest in den Köpfen vieler Finnen und Schweden verankert. Doch angesichts der immer aggressiver werdenden russischen Außenpolitik mehren sich bereits seit der Annexion der Krim 2014 die Rufe nach einem NATO-Beitritt. Bislang fehlt es dazu jedoch an einer umfassenden Debatte. Das wird sich jetzt ändern.
In Anbetracht der Drohungen Russlands, im Falle eines Beitritts zu reagieren, hatten finnische und schwedische Politikerinnen und Politiker in den vergangenen Wochen und Monaten mehrfach betont, dass ihre Länder allein über ihre Sicherheitspolitik entschieden. Politik und Militär sind sich einig, dass sich die Risiken und die Bedrohungslage für beide Länder deutlich erhöht haben. Sie reagieren daher bereits jetzt mit weiteren Erhöhungen ihrer Investitionen ins Militär. In der Politik wird die Zustimmung angesichts der neuen Situation immer größer, der NATO beizutreten. Manche fordern sogar einen sofortigen Beitritt. Auch in der Bevölkerung beider Länder ist die Zustimmung für einen NATO-Beitritt in den vergangenen Tagen sprunghaft angestiegen. In Finnland wird dies mit 53 Prozent nun erstmals mehrheitlich befürwortet – bislang hatten sich nur um die 25 Prozent dafür ausgesprochen. In Schweden sind es 41 Prozent. Eine finnische Bürgerinitiative für einen NATO-Beitritt erhielt innerhalb kürzester Zeit mehr als 50 000 Unterschriften. Vor allem in Schweden gibt es dagegen jedoch auch weiterhin politischen Widerstand.
Ein schneller NATO-Beitritt beider Länder ist daher nicht sehr realistisch. In der aktuellen Situation könnte er sogar riskant sein. Es bedarf zunächst einer gründlichen Analyse der neuen nationalen Sicherheitslage, einer umfassenden (ergebnis-)offenen politischen Debatte über die Vor- und Nachteile einer Mitgliedschaft und der Organisation politischer Mehrheiten. Die außen- und sicherheitspolitische Wende im Norden muss und wird jetzt eingeleitet werden. Aufgrund der enormen Tragweite muss ihr aber Zeit und Gründlichkeit zugestanden werden.
lehrt Europa-Studien an der Norwegian University of Science and Technology (NTNU) in Norwegen.