Verleihung des Willy-Brandt-Preises: Mehr Demokratie wagen
Àgnes Heller ist eine kleine Frau. Sie ragt kaum über das Rednerpult hinaus, neben ihr steht die große Statue von Willy Brandt. In der Philosophie jedoch ist Heller eine Riesin – und zwar eine, die ihre Position nutzt, um auf politische und gesellschaftliche Missstände hinzuweisen. In ihrer Heimat Ungarn, wo Heller nach vielen Jahren im Ausland wieder wohnt, hat sie sich mit dem repressiven Regime von Viktor Orbán angelegt. Für diesen Einsatz gegen Totalitarismus und für Freiheit wurde Àgnes Heller nun in Berlin mit dem Internationalen Willy-Brandt-Preis ausgezeichnet. Die britische Journalistin und WikiLeaks-Mitarbeiterin Sarah Harrison erhielt den Preis für besonderen politischen Mut.
Der Willy-Brandt-Preis, initiiert von Egon Bahr und Sigmar Gabriel, wird seit 2011 an Menschen oder Institutionen vergeben, die sich in vorbildlicher Weise für die internationale Verständigung zwischen den Völkern einsetzen. Sigmar Gabriel betonte in seiner Laudatio für Heller, dass die großen Themen ihres Lebens – Freiheit, Humanismus, Demokratie und Moralität – auch das Leben und Wirken Willy Brandts geprägt hätten: Beide seien sie „Jahrhundertmenschen“, nämlich Zeugen des „Jahrhunderts der Extreme“, wie der Historiker Eric Hobsbawm das 20. Jahrhundert nannte. Während Brandt vor den Nationalsozialisten fliehen konnte, überlebte die Jüdin Àgnes Heller den Holocaust nur mit viel Glück. Zahlreiche ihrer Verwandten starben in Konzentrationslagern.
Eine pragmatische, menschliche Philosophie
Kein Wunder also, dass Hellers philosophisches Schaffen vor allem um Fragen der Moral kreist. Nach dem Krieg trat sie der kommunistischen Partei bei – im festen Glauben, dass, wie Heller selbst sagte „die Partei nur die schlechte Umsetzung einer guten Sache ist.“ Sie erkannte ihren Irrtum und wurde zur Dissidentin im kommunistischen Ungarn. Es folgten: Parteiausschluss, Verlust des Lehrstuhls an der Universität sowie ab 1977 Exil in Australien und den USA. Dort wurde sie 1986 Hannah Arendts Nachfolgerin am Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York. Hellers Philosophie ist nicht abgehoben, wurde nicht im Elfenbeinturm erdacht. Sie ist pragmatisch, menschlich. Es ist der Alltag, der Heller interessiert, nicht die Metaphysik.
In ihrer Dankesrede betonte Àgnes Heller, wie viel ihr der Preis bedeute: „Willy Brandts Einsetzung ins Amt des Bundeskanzlers von Deutschland war für mich wie auch für alle anderen im Leben gebliebenen Opfer des Nazismus das Zeichen, dass Deutschland unwiderruflich mit dieser Vergangenheit gebrochen hat, um zur der großen Tradition der deutschen Sozialdemokratie zurückzukehren.“ Sie warnte Philosophen davor, sich in politischer Absicht mit autoritären Herrschern zu verbünden, mit gefährlichen politischen Regimen. Mit Blick auf das Orbán-Regime sagte sie, es brauche heute keine Helden, aber „Regierende, die nicht an die schlimmsten, sondern an die besten Instinkte der Bevölkerung appellieren.“
Mehr als Worte
Die Journalistin und Aktivistin Sarah Harrison nutzte ihre Dankesrede, um Forderungen an die deutsche Politik zu stellen. Harrison ist eine der führenden Mitarbeiter von WikiLeaks, enge Beraterin von Julian Assange und 2013 begleitete sie den amerikanischen Whistleblower Edward Snowden auf seinem Flug von Hongkong nach Moskau. Heute lebt Harrison in Berlin und setzt sich weiterhin gegen Überwachung und für politisches Asyl für Snowden ein. Sie erinnerte das Publikum im Willy-Brandt-Haus daran, dass Freiheit immer wieder erkämpft werden muss. Großbritannien, die USA und andere Länder würden den Begriff der „nationalen Sicherheit“ benutzen, um ihre Bürgerinnen und Bürger auszuspähen. Auch der deutsche BND würde immer noch für die Amerikaner arbeiten, statt für das deutsche Volk. Willy Brandt habe nach dem Mauerbau 1961 zu John F. Kennedy gesagt: „Berlin expects more than words“.
Auch jetzt gehe es darum, den USA die Stirn zu bieten: „Ich wünsche mir, das Land, welches das tut, wäre Deutschland.“ Edward Snowden müsse politisches Asyl gewährt werden – aber bisher sei schon verhindert worden, dass er vor dem NSA-Untersuchungsausschuss aussagen könne. Hier sieht Harrison auch die SPD in der Pflicht, die sich ihrer Meinung bisher noch nicht genug gegen Überwachung und die Einschränkung der Freiheit eingesetzt hat. „Mut ist ansteckend“, sagte Harrison und forderte mit Willy Brandt: „Wagen wir mehr Demokratie!“
Mit der Auszeichnung von Àgnes Heller und Sarah Harrison ist die Wahl auf zwei Frauen gefallen, die mehr Demokratie gewagt haben – und es immer noch tun, jeden Tag.