International

Vergoldete Verhaftungen

von Joachim Wagner · 3. Juni 2010
placeholder

Schlüssige Antworten auf diese Fragen gibt es bisher nicht, bestenfalls plausible Hypothesen:

In Washington dominiert immer noch die Meinung, dass die NATO die Taliban erst militärisch in die Defensive drängen muss, bevor Gespräche mit ihnen beginnen sollten. Erfolge auf dem Schlachtfeld sind den Amerikanern derzeit wichtiger als vage Aussichten am Verhandlungstisch. Baradar war nämlich nicht nur gesprächsbereit, sondern als Militärchef der Gotteskrieger auch ihr strategischer Kopf.

Außerdem hofft der CIA, dass sich Baradar zu einer sprudelnden Informationsquelle entwickelt. Seit einigen Wochen, das hat die US-Seite durchblicken lassen, ist der amerikanische Geheimdienst an der Befragung des Taliban-Vizechefs durch den ISI beteiligt.

Das Interesse Pakistans

Für Pakistans Hilfe bei der Verhaftung Baradars und anderer Top-Taliban gibt es zwei Motive: Nachdem die Regierung in Islamabad erkannt hat, das Friedensgespräche nicht zu verhindern sind, will sie künftig eine aktive Rolle spielen, um die Interessen Pakistans in Kabul nach dem Abzug der ISAF-Truppen zu wahren. Und in den letzten Monaten war der Frust der Amerikaner über den mangelnden Einsatz Pakistans im Kampf gegen die Taliban-Führung so gewachsen, dass ein Teil der US- Finanz- und Militärhilfe auf dem Spiel stand. Die wollte das an der Staatspleite vorbeischrammende Land auf jeden Fall retten.

Auf Wunsch der Regierung Karsai, der Taliban und der USA war Pakistan bisher von den Friedensgesprächen ausgeschlossen, weil sie dem Land misstrauten. Und das aus gutem Grund. Ein Flügel des pakistanischen Geheimdienstes hat in den letzten Monaten Sondierungen zwischen der afghanischen Regierung und der Führung der Aufständischen hintertrieben. Thomas Ruttig, der wohl beste deutsche Afghanistan-Kenner, hat Berichte "aus erster Hand, dass der ISI Taliban festgesetzt hat, die gesprächsbereit waren". Es gibt Informationen, nach denen eine drei- bis fünfköpfige Taliban-Gruppe, die im Januar 2010 vom ISI festgenommen wurde, sich auf dem Weg zu Gesprächen mit dem damaligen UN- Sonderbeauftragten Kai Eide befand.

Noch Erstaunlicheres offenbaren die langjährigen UNAMA-Mitarbeiter Talatbek Masadykow und Michael Page: "In Hinblick auf Versöhnung sind die Taliban-Führer gespalten. Mullah Omar soll angeblich zu Verhandlungen bereit sein, hat jedoch Angst davor, von gewissen Kräften innerhalb des ISI und Al Kaida bestraft zu werden".

Wegen des ISI-Doppelspiels haben Amerikaner und Afghanen die Regierung in Islamabad und ihren Nachrichtendienst beim Thema "Gespräche mit der Taliban-Führung" vom üblichen Informationsaustausch abgekoppelt. Ein Affront, der die Pakistanis verärgert hat. Um wieder ins Spiel zu kommen, hat Armeegeneral Parvez Kayani im Januar der NATO die pakistanischen Gesprächskanäle zu den Taliban für Sondierungen angeboten.

"Jeder spielt mit verdeckten Karten"

Um die Ernsthaftigkeit der Offerte zu unterstreichen, nahm der ISI im Februar und März 2010 vier Mitglieder des obersten Führungsrates der Taliban (Rahbari Shura) fest: neben Baradar Maulawi Abdur Kabis (Vorsitzender der Peshawar-Shura), Mullah Tayeb Agha (Persönlicher Sekretär von Mullah Omar) und Motasin Agha Jan (Leiter der politischen Kommission). Ein schwerer Schlag für die Islamisten: Ein Fünftel der 20-köpfigen inneren Shura saß plötzlich hinter Gittern.

Wenig später brachte die pakistanische Polizei zudem die Taliban-Schattengouverneure der Provinzen Baghlan und Kundus und den früheren Gouverneur von Urazgan hinter Schloss und Riegel. Es folgte die Verhaftung von 12 Al Kaida-Kadern in Karachi. Die Machtdemonstration der Regierung gegenüber den Taliban und Al Kaida sollte drei politische Signale senden: Pakistan ist für die Taliban kein sicherer Rückzugsraum mehr, es existiert eine neue Kooperationsbereitschaft mit den USA beim Kampf gegen die Taliban im eigenen Land und eine Warnung, dass Friedensgespräche ohne eine führende Rolle Islamabads nicht laufen.

Die Verhaftungserie haben die im USA nachhinein vergoldet. Verärgert über das zögerliche Vorgehen der pakistanischen Regierung gegenüber den Top-Taliban hatte Washington alle Gelder aus dem Anti-Terrorfonds für Pakistan vorübergehend mit dem Ziel gesperrt, die pakistanische Armee endlich zu einer Offensive gegen Nord-Waziristan drängen. Dort hat der Haqqani-Clan, der ruchloseste Taliban-Clan, sein Hauptquartier. Da dieser Angriff wahrscheinlich einen hohen Blutzoll gefordert hätte, gaben sich die Amerikaner schließlich mit der Verhaftungswelle als Zeichen guten Willens zufrieden. Sie entsperrten 349 Millionen Dollar, wesentlich mehr als die üblichen zweistelligen Tranchen.

Auf der Londoner Konferenz haben alle siebzig Länder Präsident Karsais "Afghanisches Friedens- und Wiedereingliederungsprogramm" gebilligt. Es setzt auf einen Doppelstrategie: ein Reintegrationsprogramm für Kämpfer sowie lokale und regionale Kommandeure, das auf der Großen Ratsversammlung diskutiert wird, und Versöhnungs- und Friedensverhandlungen mit der Taliban-Führung. Niedrige Ränge sollen eine Amnestie erhalten, höher rangige Aufständische die Möglichkeit, ins Exil zu gehen.

Über alle diese Fragen wird, obwohl offiziell tabu, seit Ende 2006 von zahlreichen Einzelpersonen, Einrichtungen, und Gruppen geredet. Nach der Möglichkeit einer politischen Lösung suchen seitdem neben der Regierung Karsai einzelne Abgeordnete, Senatoren und Gouverneure, eine Gruppe ehemaliger Taliban-Kommandeure, die UN, die EU-Mission, das Rote Kreuz und alle westlichen Geheimdienste, einschließlich des BND. Ohne jede Koordination agieren sie nebeneinander und manchmal auch gegeneinander im Dunkel der Geheimgespräche. Ein westlicher Diplomat: "Jeder spielt für sich mit verdeckten Karten". Eine Folge dieses Chaos ist vermutlich auch die Verhaftung Baradars. Karsai wusste nicht, dass dessen Vertreter mit der UN gesprochen haben. Und beiden war wahrscheinlich unbekannt, dass Baradar über Mittelsmänner auch Kontakt zu amerikanischen Generälen hatte.

Dr. Joachim Wagner ist Stellv. Studioleiter im ARD-Hauptstadtstudio.

Schlagwörter
Autor*in
Joachim Wagner

war Assistenzprofessor für Strafrecht. Bekannt wurde er als ARD-Journalist, der u. a. aus London und Berlin berichtete. 2011 erschien sein Buch „Richter ohne Gesetz“ über islamische Paralleljustiz.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare