Venezuela: Coronakrise in der Staatskrise
picture alliance/AP Photo
Wie macht sich die Corona-Krise im venezolanischen Alltag bemerkbar?
Die Venezolaner_innen mit Internetzugang waren schon frühzeitig alarmiert. Man wusste, dass das Land schon seit Jahren unter Versorgungsengpässen litt und dass insbesondere das Gesundheitssystem schlecht funktionierte. Ein Großteil der verarmten Bevölkerung nahm dies zunächst noch mit einem gewissen Fatalismus hin, waren sie doch eh abhängig von den Hilfspaketen der Regierung oder der Unterstützung durch ausgewanderte Familienangehörige. Als sich Regierungschef Nicolás Maduro dann am 13. März in Fernsehansprachen über die drohende Gefahr ausließ und am Folgetag erste Fälle bestätigte, breitete sich Panik aus. Insbesondere die venezolanische Mittelschicht in Caracas überrannte Supermärkte und Drogerien und kaufte das knappe Angebot auf. In den ärmeren Stadtteilen („Barrios“) schlug die tägliche Sorge in existentielle Angst um. Berichten zufolge übernehmen teilweise bewaffnete lokale Gruppen („Coletivos“) die Kontrolle über ganze Stadtteile und ausgedünnte Versorgungsketten.
Mit welchen Maßnahmen hat die Regierung auf die Krise reagiert?
Viele Beobachter gehen davon aus, dass auch Venezuela schon mehrere Wochen – nicht-erkannte oder nicht-dokumentierte – Infektionsfälle aufwies, bevor Maduro am 14. März zwei Fälle bekanntgab und sofort umfassende Einschränkungen verkündete. Zunächst noch auf das Verbot von Versammlungen und Vorschriften für Gesichtsmasken beschränkt, wurden diese schnell ausgeweitet. Bereits zwei Tage später gab es Anweisungen, das eigene Stadtviertel nicht zu verlassen. Am 17. März wurden die Grenzen offiziell geschlossen, alle privaten, kommerziellen Flüge untersagt. Ich selbst bin – genau wie meine Ehefrau und meine Nachfolgerin im Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Caracas – noch mit einem allerletzten Flug von Turkish Airlines über Caracas rausgekommen. In den nächsten Tagen sind weitere Maßnahmen, wie die totale Abschottung ganzer Provinzen oder Stadtteile zu erwarten. Wurde die Radikalität der Maßnahmen international durchaus anerkannt, ist gerade hier zu beachten, dass autoritäre Regime die Beschränkung ziviler Rechte zur absoluten Kontrolle der Bevölkerung nutzen.
Wie haben sich die Beziehungen zu den Nachbarländern bzw. den Ländern der Region verändert?
Zwischen vier und fünf Millionen Venezolaner_innen haben das Land verlassen und sind in den Einwanderungsländern in äußerst prekärer Lage – ohne Zugang zu Gesundheitssystemen, angewiesen auf Hilfsprogramme. In der Grenzregion zu Kolumbiens Großstadt Cucuta leben und arbeiten viele Pendler, die insbesondere als Händler oder Schmuggler täglich die Grenze überqueren. Als Kolumbien unilateral eine Grenzschließung verkündete, gab es Proteste seitens der Regierung Maduro, obwohl später selbst diese Maßnahme vollzogen wurde. Venezuela klagt das Nachbarland an, paramilitärische Gruppen ins Land zu lassen, während die Gegenseite ungestörte Aktivitäten von Guerillagruppen bei kriminellen Aktivitäten und der Ausbeutung von Bodenschätzen denunziert. Obwohl es zumindest zur Regierung Brasiliens informelle Kanäle zur Koordination gibt, gleiten die Grenzregionen nach Kolumbien und Brasilien zunehmend in anarchisch strukturierte Herrschaftsgebiete der organisierten Kriminalität ab.
Inwieweit hat sich die Versorgungslage in Venezuela seit Beginn der Krise weiter verschlechtert?
In der bekannten Mangelsituation des Landes macht sich nicht nur das Fehlen von Medikamenten bemerkbar. Gerade die rationierte Versorgung mit Benzin erweist sich zunehmend als Engpass, selbst in Caracas. Nur mit Ausnahmegenehmigungen soll es angeblich möglich sein, die Kontrollposten von Polizei, Nationalgarde oder Milizen zu überwinden. In dem korruptionsgeprägten Land sprechen Beobachter von Exzessen selbsternannter Schutzmächte durch Gängelung von Personen, die Lebensmittel suchen. Der Zugang zu öffentlichen Märkten ist streng kontrolliert, der Schwarzhandel blüht mit knappen Gütern und exorbitanten Preisen. Nach Schließung des Publikumsverkehrs der Banken funktionieren nur noch elektronische Systeme wie Debit- oder Kreditkarten oder Bargeld. In ländlichen Gebieten, wo noch viel mit Bolivares und US-Dollar gezahlt wird, ist die Situation teilweise dramatisch, die Informationslage katastrophal.
Welche Auswirkungen hat die Krise auf das Ansehen der Maduro-Regierung in der Bevölkerung?
Das Ansehen von Maduro war in den letzten Jahren ständig gesunken. In Umfragen genoss er nur bei etwa 15 Prozent der Bevölkerung ein gutes Ansehen. Maduro selbst und Politiker wie der ehemalige Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles riefen zu mehr Zusammenarbeit von Regierung und Opposition in der Notlage auf. Parlamentspräsident Juán Guaidó, von mehr als 50 Staaten als „Interimspräsident“ anerkannt, beantragte seinerseits Hilfsmaßnahmen und Finanzierung durch internationaler Organisationen. Die Maßnahmen und die Krise zeigten bisher gegenteilige Wirkungen: Einerseits wurde das Bemühen um Beherrschung der schwierigen Lage teilweise anerkannt, andererseits überwiegt die Angst vor der Ankündigung, „corona-verdächtige“ Personen und deren Familien zwangsuntersuchen zu lassen. Schon gibt es erste Meldungen über willkürliche Festnahmen wegen angeblicher Verstöße gegen die jüngsten Erlasse.
Wie ist das venezolanische Gesundheitssystem auf weiter steigende Fallzahlen vorbereitet?
Genauso sicher wie steigende Fallzahlen sind die gravierenden Probleme im Gesundheitssystem. Fehlende oder funktionsunfähige Dialyseapparaturen, Beatmungsmaschinen oder Medikamente, die Ausdünnung mit qualifiziertem Krankenhauspersonal und der unsichere Zugang im Notfall sind Ausdruck der komplizierten Situation. Angeblich sollen genug Testmaterialien auf Covid-19 im Land sein. Mit dem Anti-Malaria-Medikament Chloroquinin und mit Interferon soll zudem ein Großversuch zur Eindämmung oder Abwehr des Virus gestartet werden. Kubanische Ärzte sollen bei der Eindämmung und Behandlung helfen. Auch Russland und China haben Hilfe zugesagt. Außenminister Arreaza forderte bisher vergeblich die Lockerung der US-Sanktionen, u.a. gegen den Verkauf des staatlichen Erdöls, oder sogar Hilfskredite des Weltwährungsfonds. Wie die venezolanischen Politiker ist auch die Weltgemeinschaft gefordert, die Krise Venezuelas, seines Gesundheitssystems und die Covid19-Gefahren durch Kooperation und kreative Solidarität zu bewältigen.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo