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„Utøya ist für mich ein friedlicher Ort“

von Christian Böttcher · 22. Juli 2013

Vor zwei Jahren hat Anders Behring Breivik 69 junge Genossinnen und Genossen auf der Insel Utøya in Norwegen erschossen. In diesem Jahr hat die sozialdemokratische Jugend zum ersten Mal wieder ein Sommerlager veranstaltet. Unser Autor Christian Böttcher sprach mit Astrid Sylte, die den Anschlag überlebte, über den 22. Juli 2011.

Es ist ein recht kühler und durchwachsener Sommertag, an dem ich Astrid Sylte, die 19 jährige stellvertretende Vorsitzende der AUF, in der Provinz Troms in den hellen Geschäftsräumen der norwegischen Arbeiterpartei in Tromsø treffe. Die AUF, die Jugendorganisation der norwegischen Sozialdemokraten, wurde vor fast zwei Jahren weltweit bekannt, als Anders Behring Breivik 69 ihrer Mitglieder auf der Fjordinsel Utøya in ihrem Sommerlager ermordete.

Astrid beginnt mit der Geschichte am Vortag des 'schwarzen Freitags'. Es war der zweite Tag des Sommerlagers und geprägt von sonnigem Wetter und bester Stimmung. „An diesen Tag habe ich nur gute Erinnerungen“, erzählt sie und strahlt dabei. Umso offensichtlicher ist der Kontrast zum folgenden Tag, dem 22. Juli 2011.

Es war ein typischer norwegischer Sommertag. Gro Harlem Brundtland, die norwegische Ministerpräsidentin von 1990 bis 1996 und charismatischste Person der norwegischen Sozialdemokratie, kam zum Besuch ins Lager und hielt einen Vortrag. Breivik wollte auch sie töten, jedoch verließ sie kurz vor seinem Eintreffen die Insel.

Die ersten Meldungen aus Oslo: Ein Schock

Rückblick auf den 22. Juli 2011: Nach Brundtlands Vortrag spricht ein Mädchen zur Krise in der Westsahara und Astrid geht währenddessen kurz zu ihrem Zelt auf dem nahen Zeltplatz. Auf ihrem Handy sieht sie die ersten Meldungen vom Bombenanschlag im Osloer Regierungsviertel. Ein Schock.

Zurück bei der Gruppe schwenkt die Stimmung schnell um, als sich die Nachricht verbreitet. Die meisten Lagerteilnehmer kommen aus Oslo oder dessen Umgebung und sorgen sich um ihre Verwandten und Freunde. Die Jugendlichen und die Betreuer versammeln sich, ein Fernseher wird aufgestellt und gemeinsam werden die Nachrichten verfolgt.

Die Gruppe der AUF Troms, zu der auch Astrid gehört, sammelt sich abseits der großen Gruppe auf dem Zeltplatz, um eine Übersicht zu bekommen und die jüngeren Teilnehmer zu beruhigen. Plötzlich hören sie Schüsse, oder sind es Böller? Warum sollte jemand schießen?

Die ersten Jugendlichen kommen vom Hauptplatz herüber und rufen „Lauft, lauft!“, aber die Lage scheint nicht klar und es wird versucht Ruhe zu bewahren. Astrid sieht einen Polizisten vor dem Gebäude in der Mitte der Insel; die Sicht dorthin ist vom Zeltplatz frei. Ein Lagerteilnehmer läuft auf den Polizisten zu, um nach der Herkunft der Schüsse zu fragen. Er wird vom als Polizisten verkleideten Breivik erschossen.

Panik bricht aus

Jetzt ist klar, dass es um Leben und Tod geht. Endgültig bricht Panik aus und der größte Teil der Jugendlichen rennt hinunter zum Fjord und springt ins Wasser. Auf dem Weg hierhin fallen immer wieder Schüsse und einige fallen getroffen zu Boden. Astrid hilft einem Mädchen, das in den Fuß getroffen wurde und erreicht mir ihm das Wasser. Hier ruft sie das erste Mal bei der Polizei an – niemand hebt ab. Sie beginnt zu schwimmen, das Handy noch immer in der Hand, und wählt die Nummer des Rettungsdienstes. Hier wird abgenommen und sie berichtet kurz und knapp von den Schüssen auf der Insel. Jedoch ist der Rettungszentrale nicht bekannt, wo die Insel Utøya liegt.

Während sie gemeinsam mit anderen in Richtung Festland schwimmt, kommt Breivik hinter ihnen ans Ufer der Insel und schießt aufs Wasser hinaus. Mehrere Kugeln verfehlen Astrid und ihre Gruppe nur um einige Meter. Kurz vor Erreichen des Festlands wird sie von einem herbeieilenden Ruderer im Boot aufgenommen, das vom Regen der vorherigen Tage noch halb mit Wasser gefüllt ist. Während er weitere vier schwimmende Lagerteilnehmer ins Boot aufnimmt, schöpft Astrid Wasser aus dem Boot heraus, damit sie nicht untergehen.

An Land herrscht weiterhin Chaos. Astrids Handy funktioniert wie durch ein Wunder immer noch und sie lässt drei weitere Überlebende Nachrichten an ihre Familien schreiben. Sie ahnt nicht, dass ihre Nummer wie durch Geisterhand unter den Eltern vieler Lagerteilnehmer verbreitet und sie unzählige Anrufe von diesen bekommen wird. Mit Antworten kann sie indes nicht dienen.

Viele Anwohner helfen

Die an Land geschwommenen Jugendlichen müssen sich über Listen registrieren um etwas Übersicht in das Chaos zu bringen. Inzwischen sind auch hilfsbereite Anwohner hinzugekommen, die den Jugendlichen Essen und Trinken geben – hierunter auch eine Geburtstagsgesellschaft, die ihren Kuchen zur Verfügung stellt. Ein in der Nähe befindliches Hotel wird zum ersten Hauptsammelpunkt und hier tauchen auch die ersten Listen der Vermissten, Verletzten und Getöteten auf. 

Die Freude, über jeden den man lebend wieder sieht, ist groß, aber auch der erste Tote aus Astrids Gruppe wird bestätigt. „Der Anblick der Listen war schrecklich. Bei vielen konnte die Identität noch nicht zugeordnet werden und erst im Nachhinein erfuhr man, wer mit 'Mädchen, etwa 20 Jahre, schwer in Schulter getroffen' gemeint war.“ Auch das Wort 'vermisst' bekommt im Laufe dieses Abends und des kommenden Tages eine andere Bedeutung und wird schließlich zum Synonym für den Tod.

Am Tag nach diesem Akt des Terrors fliegen die Jugendlichen aus Troms abends mit einer eigens bereitgestellten Maschine zurück nach Tromsø. Hier werden sie von allem was Rang und Namen hat am Flughafen empfangen, was Astrid im Nachhinein aber als „bedeutungslos“ beschreibt. Nach der Landung sammelt sich die Gruppe mit ihren Angehörigen in einem nahen Hotel und die neusten Listen über Verletzte und Tote machen die Runde. Es ist ein erneuter Schock für die Gruppe als sie erfährt, dass insgesamt vier aus ihren Reihen Breiviks Hass zum Opfer fielen.

„Ein kleines Land mit sehr viel Liebe“

Am 25. Juni finden landesweit Andachten statt und es sind so viele Menschen auf den Straßen wie seit Ende des 2. Weltkriegs nicht mehr. Dies zu sehen berührt Astrid. „Es war schön zu sehen, dass die Leute sich mit einem verbunden fühlten. Es gab mir das Gefühl von Wärme.“

Auf die Frage, was dieser schwarze Freitag für Norwegen aus heutiger Sicht bedeutet, ist gerade diese Wärme ein wichtiger Teil ihrer Antwort: „Norwegen ist ein kleines Land mit sehr viel Liebe. Dem Hass dieses einen Mannes setzen wir gemeinsam Liebe entgegen.“

Dies ist auch das, was sich Norwegens Ministerpräsident Jens Stoltenberg nach den Anschlägen zum Ziel setzte, als er sagte, dass man dieser Situation nur mit noch mehr Offenheit begegnen kann. Offenheit, das meint auch die Diskussion über verschiedene Meinungen in der Öffentlichkeit und dies hat sich in den letzten zwei Jahren gebessert, findet Astrid. „In einer Demokratie ist es gut auch mit Leuten zu diskutieren, die andere oder sogar abwegige Meinungen haben. Ein breites Spektrum für Diskussionen lässt wenig Platz für Gewalt.“

Astrid selbst spricht von Breiviks Taten nicht als Terrorangriff. Für sie sind es vielmehr die schrecklichen Taten eines einzelnen Mannes. Auch Vergleiche mit Utøya als Norwegens '11. September' lehnt sie ab. „Das war etwas anderes, eine ganz andere Qualität und Kategorie.“

Norwegen ist enger zusammengerückt und das gegenseitige aufeinander Aufpassen funktioniert besser denn je. Das ist Utøyas Schatten, der bis über den heutigen Tag hinaus die Gesellschaft beeinflusst, „aber ganz im Positiven“, wie Astrid schnell hinzufügt. „Breiviks Erwartung, dass die Mehrheit an seinen Ansichten Gefallen finden könnte, war unbegründet und die AUF ist an dieser Probe nicht zerbrochen, sondern noch entschlossener und engagierter geworden.“

Vorfreude statt Angst

Das habe auch ich in den drei vergangenen Wochen gespürt, als ich zusammen mit Astrid an den Vorbereitungen für das diesjährige Sommerlager gearbeitet habe. Sie hat keine Angst, fühlt sich sicher und ist voller Vorfreude auf die bevorstehenden Tage am Rand des Fjordes, in dessen Mitte Utøya liegt. Wenn man sie auf der Straße trifft und mit ihr ins Gespräch kommt, würde wohl keiner merken, was sie im Sommer vor zwei Jahren durchgemacht hat. Sie wirkt ausgeglichen, bisweilen etwas aufgedreht und hat immer ein Lächeln parat. Am Anfang unseres Gesprächs sagte sie mir direkt, dass ich fragen kann, was immer ich wissen wolle. Doch es liegt keinerlei gefühllose Gleichgültigkeit in diesen Worten, sondern viel mehr der Wunsch, dass die Wahrheit darüber erzählt wird, wie unschuldige, politisch engagierte Jugendliche auf schreckliche Weise den Tod gefunden haben. 

Dies gilt nicht nur für Astrid. Die Jugendlichen gehen offensiv mit ihren Erlebnissen um und kapseln sich nicht ab. Eine junge Genossin, die von Breivik schwer angeschossen wurde, hat erst vor wenigen Wochen ihre erste große Kick-Box-Prüfung bestanden. Ein Zeichen des Kampfes gegen Breivik selbst und ein Sieg über ihre Verletzungen.

Astrid war seit dem 22. Juli 2011 zweimal auf Utøya und möchte auch diesen Sommer mit anderen Jugendlichen, die 2011 ebenfalls da waren, die Insel besuchen. „Es ist für mich ein friedlicher Ort, aber in einer Dimension, die man wohl selbst erlebt haben muss, um sie zu beschreiben.“ Langfristig soll das Sommerlager wieder dort stattfinden, aber bei allem Fortschritt und aller Offenheit sind die Narben von diesem Angriff auf die norwegische Gesellschaft und die Sozialdemokraten noch so tief und schmerzhaft, dass es hierzu noch zu früh wäre.

Die norwegische Sozialdemokratie hat die Anschläge überstanden und steuert im September auf die erste Parlamentswahl nach Utøya zu. In der ersten Reihe des Wahlkampfs finden sich bekannte Gesichter. Es sind die Jugendlichen, die 2011 auf Utøya dabei waren – die norwegischen Gesichter einer sicheren und gewaltfreien Zukunft.

Autor*in
Christian Böttcher

studiert Politikwissenschaft und Skandinavistik - derzeit als Erasmus-Student an der Universität Tromsø

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